Warum keine Noten?
Noten entsprechen keinen Messkriterien, sie sind weder objektiv, noch valide, noch reliabel. Darin ist sich die Wissenschaft völlig einig. Noten geben den Leistungsstand der SchülerInnen nicht korrekt wieder. Das können sie auch gar nicht, weil es keinen Maßstab für geistige Leistung gibt. Korrekt messen lassen sich Gewichte, Entfernungen, Temperaturen.
Repräsentative Vergleichszahlen sind nur bei großen Untersuchungen wie PISA möglich, die eine hohe Anzahl von SchülerInnen erfassen. Die Ergebnisse treffen nicht auf den einzelnen Schüler zu, aber sie zeigen einen Durchschnitt und Tendenzen. Die 15-jährigen Schüler Finnlands erreichen im Schnitt bessere Leistungen als deutsche 15-Jährige, was anhand von Kompetenzrastern festgestellt wird.
Eine Klassenarbeit dagegen prüft nur 25 SchülerInnen. Eine Klasse ist eine zufällig zusammen gewürfelte, also nicht repräsentative Gruppe. Trotzdem setzt der Lehrer die Klassenarbeiten in eine Rangfolge, aus der sich die Noten ergeben. Aber in jeder anderen Klasse, jeder anderen Schule ist die Zusammensetzung der 25 SchülerInnen eine andere. So ist eine 2 in einer schwachen Klasse/Schule eine 4 in einer starken Klasse/Schule.
Zudem ist die Rangfolge, die der Lehrer erhält, von vielen subjektiven Entscheidungen geprägt: Die Kriterien sind zwar im weiten Sinn durch den Lehrplan bestimmt, die Schwerpunkte jedoch durch das Interesse des Lehrers festgelegt: Was wichtig ist, was nicht, bestimmt er. Welche Formulierungen der Schüler anerkannt werden, bestimmt er. Auf welche Wissensinhalte er wie viele Punkte erteilt, bestimmt er. In diesen entscheidenden Bereichen waltet also reine Subjektivität. Auch die Verteilung der Punkte auf der Notenskala – eine kultusministerielle Festlegung! – ist reine Willkür und frei von aller Wissenschaftlichkeit: Die Hälfte der zu erreichenden Punkte ergibt noch ausreichend (4-), die Verteilung der übrigen Punkte ist im gleichen Abstand zu vollziehen.
Auch die Bewertung von Abschlussarbeiten oder Jahrgangsstufentests ist subjektiv. Die landesweite Vorgabe der Aufgaben und des Korrekturschemas verhindert nicht subjektive Entscheidungen der Korrigierenden. Sogar die Aufgabenstellung selbst, die Lehrern übertragen wird, ist subjektiv: In einem Jahr sind die Aufgaben leicht, im nächsten schwer.
Subjektive Entscheidungen der Lehrperson spielen noch in vielen anderen Bereichen eine Rolle: Sympathie, bisheriges Leistungsniveau des Schülers, sein sozialer Status, die Reihenfolge der Arbeiten beim Korrigieren etc. etc. (lesen Sie hier dazu weiter unser PDF „Fehler beim Benoten“)
Die Qualität eines Lehrers zeigt sich an den Noten, die seine SchülerInnen erreichen – so könnte man meinen. Je besser die Noten, desto besser der Lernerfolg seiner SchülerInnen. Subjektiv meinen Lehrer jedoch häufig: Je schlechter die Noten, desto mehr Leistung habe er verlangt, desto besser sei er. Oder: Je strenger die Schule, desto höher der Leistungsanspruch. Ob die geforderte Leistung den Schülern auch vermittelt wurde, wird nicht bedacht.
Aber all das macht der kultusministeriellen Verwaltung nichts. Im Gegenteil, sie verwehrt sich grundsätzlich gegen Elternklagen mit der Begründung, dass die Benotung im „pädagogischen Ermessen“ der Lehrperson liege. So kann man Willkür auch nennen.
Alle reden vom individuellen Lernen, sogar das bayerische Kultusministerium. LehrerInnen öffentlicher Schulen werden mit kultusministeriellen Schreiben überhäuft, sie sollen schüleraktives Arbeiten fördern. Aber an den vorgeschriebenen kollektiven Prüfungen wird nichts geändert, so dass – wenn überhaupt – immer nur in kurzen Intervallen vom Lernen im Gleichschritt abgewichen werden kann. Denn jede Individualisierung endet bei der nächsten Klassenarbeit.
Der Zeit- und Energieaufwand für Korrekturen ist enorm. Um die Korrektur zu erleichtern, stellen LehrerInnen nun einfach zu korrigierende Aufgaben: Mit einem Fachwort zu beantworten oder mit einem kurzen Sätzchen. Fragen, die auf eindeutige Antworten zielen, keine schwierigen Problematisierungen oder Erörterungen, eindeutige Rechenwege. Kurz, es sind, was die Denkleistung betrifft, einfache Aufgaben. Dafür einige Aufgaben auch aus eventuell abgelegenen Bereichen, die Schüler dann als schwer empfinden.
Aufgaben, die benotet werden müssen, tragen also nicht zur Denkentwicklung, nicht zur Förderung der kognitiven Kompetenz bei. Anders gesagt: Noten verdummen.
In einem selektiven Schulsystem, in dem Noten eine so große Rolle spielen – sie entscheiden über Auf- oder Abstieg auf dem Bildungsweg – lernen SchülerInnen logischer Weise für Noten. Sie pauken auf die nächste Arbeit: Bulimie-Lernen. Danach können sie das Gelernte getrost wieder vergessen, denn in der Notenschule werden Wissensinhalte nicht vernetzt, in Zusammenhängen abgeprüft, sondern in isolierten Einzelabschnitten. Insofern kann es für SchülerInnen sogar effizient sein, nach einer Prüfung wieder zu vergessen.
Lernen unter Druck und Angst – so die Hirnforschung – ist unproduktives Lernen. Im Gehirn bilden sich nur dann neue Verbindungen, wenn beim Lernen sogenannte Neurotransmitter (Botenstoffe) ausgeschüttet werden, was nur geschieht, wenn Emotionen im Spiel sind. Wer sich später an Gelerntes erinnert, ruft dabei immer auch die Emotion auf, die mit dem Lernen verbunden war. In unseren Schulen mit ihrem Notenkorsett ist das vor allem Angst, so dass sich SchülerInnen Inhalte unter Angstwiderstand eintrichtern. So wird die natürliche Neugier, Freude und Begeisterung fürs Lernen systembedingt zunichte gemacht.
Untersuchungen ergeben, dass LehrerInnen sich am meisten durch Korrekturarbeiten belastet fühlen. Ihr persönlicher Anspruch ist, gerecht zu sein. Sie spüren jedoch, dass sie es nicht sein können. Das Tragische dabei: LehrerInnen investieren viel Zeit und Energie für etwas Falsches, denn Noten geben die Leistungen der SchulerInnen nicht korrekt wieder.
Bei der Notengebung geht es nie um die individuelle Rückmeldung an den einzelnen Schüler – ein sinnvolles Unterfangen – sondern es geht um die Einordnung der Arbeiten einer Klasse auf eine Notenskala, die pauschal urteilt und alles Individuelle nivelliert. Auch persönliche Bemerkungen am Ende der Arbeit ändern an diesem Pauschalurteil nichts. LehrerInnen stecken in unserem Schulsystem also in dem Widerspruch, gleichzeitig Förderer ihrer Schüler sein zu wollen und Richter über sie sein zu müssen. Nicht wenige Lehrer zerbrechen an diesem Widerspruch. SchülerInnen können Lehrpersonen gegenüber ihre wirklichen Verständnisschwierigkeiten nicht äußern, die Gefahr, negativ eingeschätzt zu werden, ist zu groß. Förderung setzt ein Vertrauensverhältnis voraus, Notenurteile zerstören es. Gute SchülerInnen leiden ebenfalls darunter, auch ihre Individualität wird ignoriert. Auch sie stehen unter dem ständigen Druck, abrutschen zu können.
Die Notenschule ist ein Ort der Angst und Anspannung. Ein vertrauensvolles Miteinander, Fröhlichkeit, entdeckendes Lernen, mutige Neugier, auch Anstrengung mit dem Optimismus „Das schaffe ich!“ ist in einer Notenschule kaum möglich.
Fast alle Erwachsenen haben die Notenschule durchlaufen. Sie kennen nichts anderes und stellen Noten nicht in Frage. Im Gegenteil, um nicht lang über die Lernprozesse ihrer Kinder nachdenken zu müssen, sind Noten praktisch. Die Ziffern Eins bis Sechs taxieren kann jeder. Auch wenn die Taxierung falsch ist.
Eltern nehmen Noten viel zu wichtig (an zweiter Stelle nach den Schülern, die kritischste Einschätzung haben Lehrer), teilweise reagieren sie geradezu hysterisch. Vor allem aber vergiften Noten die vertrauensvolle Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Noten bewirken, dass sie die Persönlichkeit ihrer Kinder zu wenig wahrnehmen können. Ganz zu schweigen von Vorwürfen und Tragödien am Abendbrottisch, von Lügen der Kinder und Tränen.
Taxierung ist in einer Leistungsgesellschaft nicht vermeidbar, obwohl alle Bewertung (verbal oder mit Ziffernnoten) falsch sein kann und dadurch verletzend. Jeder Erwachsene wird das im Arbeitsleben und privat erlebt haben. Taxierung verändert unser Verhalten: Wir sind weniger frei, weniger annehmend für Andere und weniger offen für Neues. Aber Kinder und Jugendliche entwickeln sich erst, sie verändern sich laufend. Sie einzuordnen ist ein großer Fehler, der ihre Entwicklung behindert. Die Entfaltung ihrer Potenziale verlangt Freiheit, Ermutigung und Optimismus und einen liebenden Blick, der beantwortet werden wird.
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