Warum Fehlermachen glücklich macht
Eine Schule für Alle im Gespräch mit Glücksforscherin und Vortragsrednerin Maike van den Boom
Welches war der glücklichste Ort der Welt 2019? Zum zweiten Mal in Folge war es Finnland, wie der „World Happiness Report“ der Vereinten Nationen besagt. Auf Finnland folgten wie bereits in den Jahren zuvor weitere Nordlichter wie Dänemark, Norwegen und Island, dann die Niederlande. Deutschland belegte übrigens Platz 17.
Maike van den Boom, hat bereits zwei Bücher übers Glücklichsein geschrieben und ist eine gefragte Glücksforscherin und Vortragsrednerin. Ihre Mission ist es, die Deutschen etwas glücklicher zu machen. Dafür reist sie regelmäßig nach Deutschland, denn sie wohnt mit ihrer Tochter Elisa (13) seit zwei Jahren in Stockholm. Eine Schule für Alle in Bayern e.V. (ESfA) hat sie zum Interview im Dezember online getroffen und ihr Fragen rund ums Glücklichsein in der Schule gestellt.
ESfA: Du hast 2 Bücher übers Glücklichsein geschrieben und hast auch viele Länder dazu besucht. Wenn Du an diese Länder denkst, wie stellt sich das für die Kinder dar? Sind die auch glücklicher? Tut sich in Sachen Bildung da etwas diesbezüglich?
Maike van den Boom: Am meisten kann ich zu den skandinavischen Ländern sagen. Dänische Kinder sind zum Beispiel sehr glücklich. Vielleicht, weil in Dänemark das Fach ‚Empathie’ auf dem Lehrplan steht. Was jedoch vor allem zu ihrem Glück beiträgt ist, dass dänische Kinder sie selbst sein können. Keiner möchte sich ständig verbiegen müssen. Das ist sehr wichtig fürs Glücklichsein, auch später, wenn man erwachsen ist. Konventionen und festgesetzte Erwartungen engen Menschen ein und hindern sie in ihrer Entwicklung. Man ist Kindern gegenüber sehr viel toleranter, geht weniger hart mit ihnen um. Beispiel aus Schweden: Es gibt ja Schnelldenker und „Tiefdenker“, die etwas langsamer sind. Die schaffen vielleicht nicht alle Aufgaben der Mathearbeit in der vorgegebenen Zeit. Sind die schlechter? Nein. Also, wenn in der Klasse meiner Tochter nicht alle fertig geworden sind, dann schreibt man halt morgen weiter. Und wenn du noch etwas verbessern möchtest, wo ist das Problem? Dann hast du dich noch mal mit dem Stoff befasst. Auch Noten gibt es erst ab der 6. Klasse, in Norwegen und Dänemark sogar erst ab der 8. Klasse.
ESfA: In Deutschland trifft man auf Eltern bzw. Lehrer*innen, die dann sagen: „Ich muss aber wissen, wo mein Kind steht. Kinder brauchen Noten, sonst lernen sie nicht.“ Was würdest Du antworten, im Hinblick auf das, was Du in Skandinavien erlebst?
Maike van den Boom: Man lässt den Kindern hier in Skandinavien einfach viel mehr Freiheit. Skandinavier vertrauen den Kindern mehr und trauen ihnen somit mehr zu. Das sieht man in allen Bereichen, ob Schule oder Arbeit. Kontrolle ist nett, Vertrauen ist besser. Wir wissen doch alle, wie sehr wir an unseren Herausforderungen wachsen. Also ich weiß nicht, wo Elisa jetzt in der 7. Klasse gerade steht. Aber die macht ihr Ding, ich bin da raus. In Norwegen können die Kinder selbst wählen auf welchem Niveau sie lernen wollen. Nur auswendig lernen, oder auch verstehen oder anwenden können. Und weil Auswendig lernen in Google-Zeiten nicht mehr wirklich angesagt ist (und es wahrscheinlich auch nie war) ist das (offiziell nicht skandinavische Land) Finnland dazu übergegangen in Lebensbereichen zu lernen und nicht mehr in Fächern. Weil es darum geht, dass du verstehst. Deshalb soll guter Unterricht „Kinder befähigen, den Mut zu haben, die Verantwortung für ihr eigenes Lernen und ihr eigenes Leben zu übernehmen“, so das Norwegisch-Königliche Ministerium.
Und damit fangen die Kinder schon in der Schule an. Entwicklungsgespräche werden prinzipiell mit den Schüler geführt und nicht mit den Eltern. Da wird dann auch erwartet, dass die Kinder sich selbst einbringen, ihre Ergebnisse sogar selbst präsentieren und das Gespräch leiten. Und es zeigt sich dann auch, dass die Kinder nicht einfach das einfachste bzw. vermeintlich leichteste Niveau wählen. Kinder wollen doch lernen, Kinder sehen Vorbilder, und möchten das auch können und haben dann ihren eigenen Antrieb. Auch wenn sie 23mal hinfallen, stehen sie jedes Mal wieder auf, bis sie es können. Aber irgendwann vertrauen wir nicht mehr darauf, dass Kinder etwas lernen wollen. Wir denken, sie sind faul. Wir müssen sie antreiben und kontrollieren.
ESfA: Warum ist das so?
Maike van den Boom: Das hat etwas mit dem Menschenbild zu tun, das man selbst hat. Und mangelndes Grundvertrauen. Wir wollen deshalb die Sachen gerne kontrollieren. Und mit Noten können wir das. Wenn die stimmen, haben wir zumindest nichts falsch gemacht. Dabei ist es eine totale Verschwendung von individuellen Potenzialen. Wichtig wäre, Druck wegzunehmen und statt dessen zu inspirieren. Ich habe wahrscheinlich ziemlich doof geschaut, als Elisas Klassenlehrer die Eltern beim Elternabend dazu ermahnt hat, sich nicht auf die Noten zu konzentrieren. „Eure Kinder sind nur noch ein paar Jahre in der Schule. Aber dann haben sie vielleicht noch 60, 70 Jahre zu leben. Setzt euch mit euren Kindern hin und überlegt euch: Was möchte ich sein, welchen Beitrag möchte ich leisten?“ Lehrer werden hier im Norden auch eher als Freunde angesehen, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Autoritätsniveau ist sehr niedrig bis völlig abwesend.
ESfA: In Deutschland hat Schule einen sehr hohen Stellenwert. Für manche Eltern kommt es einer Katastrophe gleich, wenn das Kind nicht aufs Gymnasium geht. Welchen Stellenwert hat Schule im Leben der Skandinavier?
Maike van den Boom: Naja, erst einmal werden die Kinder hier nicht schon im zarten Alter von 10 Jahren getrennt, sondern gehen alle zusammen in die Grundschule, bis zur 10. Klasse. Aber klar, es gibt auch hier Leute, die Schule auch sehr wichtig nehmen. Aber grundlegend ist, dass ein Kind die Freiheit haben soll, sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln, die mit anderen kooperieren kann.
ESfA: Haben denn leistungsstärkere Kinder in Schwedens Grundschulen keine Nachteile?
Maike van den Boom: Das höre ich oft. Nur, was ist Leistung und welche Leistung benötigen wir in Zukunft? Auch wenn viele das Schlagwort Digitalisierung nicht mehr hören können, Digitalisierung bedeutet vor allem Kulturveränderung hin zum „Wir“. Also, dass man zusammenarbeitet, zusammenarbeitet, zusammenarbeitet. Darin ist der Norden Weltmeister.
Und alles was mit „Wir“ und guten Beziehungen zu tun hat, macht Menschen letztendlich auch glücklich. So ist unser Gehirn auch gestrickt.
Also wenn wir zusammenarbeiten, also wirklich kooperieren, dann wird dein Gehirn aktiv, vernetzt sich. Und diese Kooperation macht glücklich.
ESfA: In Deutschland gewinnt man den Eindruck, dass Schule reine Wissensvermittlung bedeutet. Was bedeutet denn Schule in Schweden bzw. welche Aufgabe hat Schule dort eigentlich?
Maike van den Boom: Schule in Schweden hat nebst natürlich auch der Wissensvermittlung vor allem die Aufgabe, dass sich Kinder zu sozialen Wesen entwickeln, welche sich auch um andere kümmern. Kinder werden dementsprechend oft in Gruppen benotet. Ein Beispiel dazu: Elisa musste im Sportunterricht eine Prüfung ablegen, bei der Kinder im Team und auf Zeit Aufgaben lösen mussten und dabei von Station zu Station rennen sollten. Elisa war mit Lara in einem Team. Und Lara hat einen Herzfehler. Sie konnten die Aufgaben nicht so schaffen. In Deutschland würde man jetzt vielleicht sagen, das habt ihr nun von eurem Inklusions-Gedöns.
Der Schwede hingegen sagt: Wenn ich etwas kann, was mein Gegenüber nicht kann, dann reibe ich es ihm nicht unter die Nase, sondern helfe ihm so gut zu werden, wie ich selbst. Es ist diese Kraft des Miteinander, die zählt, und nicht, dass ein Einzelner glänzt. Es ist hier also wichtig miteinander zu lernen bzw. in Unternehmen miteinander zu arbeiten und nicht gegeneinander.
ESfA: Stichwort Fehlerkultur. Fehlerkultur ist bei uns in Deutschland ganz anders als in Skandinavien.
Maike van den Boom: In Schweden ist es schon auch so, dass wenn ein spanisches Wort, falsch geschrieben wird, dann ist es falsch geschrieben und wird korrigiert. Aber diese Härte mit „Rotstift falsch“ gibt es so in Schulen nicht. In Skandinavien würde z.B. ein neuer Lehrer sagen: „Ich kenne Dich in Kunst noch zu wenig, also gebe ich Dir die Note, die Du bisher hattest. Das passt schon so.“ Die Noten bzw. Benotungen sind einfach nicht so wichtig wie bei uns, man sieht das gelassener. Und auch für Unternehmen sind Dinge wie Notendurchschnitte oder Arbeitszeugnisse nicht die Eintrittskarte. Wenn ich an Unternehmen, wie IKEA denke, da ist es sehr wichtig, dass neue Mitarbeiter mit den gleichen Werten ins Unternehmen kommen. Es helfen die besten Noten nichts, wenn die Wertvorstellungen zu weit auseinanderliegen und der Mensch als Persönlichkeit nicht passt.
Fehler sind hier in Skandinavien kein so großes Drama. Etwas ist einfach anders als erwartet. Eine Abweichung. Als wir hier in Schweden ankamen, konnte meine Tochter anfangs kein Schwedisch. Die Schule hat darauf ganz relaxed reagiert. Sie hat einfach ein Tablet bekommen, dann konnte sie selbst übersetzen und zu meiner Befürchtung, dass meine Tochter eventuell sitzenbleiben könnte, lachte ihre damalige Lehrerin nur: „Hier in Schweden, muss echt total viel passieren, bevor ein Kind mal sitzen bleibt.“
Übrigens, Fehler können glücklich machen. Wir sagen ja immer, es macht nur glücklich, wenn du es richtig machst, weil dann dein Belohnungssystem aktiviert wird. Dein Belohnungssystem wird aber auch aktiviert, wenn du Fehler machen darfst. Aber nur, wenn du daraus lernen darfst.
ESfA: Du schreibst auf Deiner Website, dass risikofreudige Menschen nachweislich glücklicher sind.
Maike van den Boom: Sich zu trauen ein Risiko anzunehmen, ist ein Resultat von Neugier. Diese Neugier ist an deutschen Schulen wie es scheint abhandengekommen. Aber wofür ist denn Schule eigentlich da? Schule ist da, dass man etwas lernt, und man lernt, wenn man neugierig ist. Und was kriegt man abgewöhnt? Neugier! Das kann doch irgendwie nicht sein. Aber wenn man neugierig sein kann, dann traut man sich auch etwas zu, weil man es einfach wissen will. Neugierde überwindet Angst.
Das hat sehr viel mit dem inneren und externen Antrieb zu tun. Noten sind ein externer Antrieb und haben kaum etwas damit zu tun, dass man selbst etwas wirklich wissen will. Und deshalb ist es enorm wichtig, bei Kindern Interesse zu wecken. Dazu muss ein Lehrer selbst wiederum kreativ werden. Oftmals fehlt dafür aber wohl die Zeit oder man steckt im vorgegebenen Lehrplan fest. Manche Lehrer sehen sich auch lediglich als reine Wissensvermittler und nicht als Persönlichkeitsformer.
Die Kernfrage lautet also: Wie wecke ich die Wissbegierde bei den Kindern? Wie sorge ich dafür, dass sie niemals aufhören zu fragen? Skandinavier erhalten sich diese Wissbegierde bis ins hohe Alter. Oder böse gesagt: Sie bleiben einfach auf dem geistigen Niveau eines Dreijährigen. Sie fragen ständig Warum?
Skandinavier wollen nicht immer einfach das tun, was ihnen gesagt wird, sondern sie wollen dazu inspiriert werden, das tun zu wollen, was sie tun sollen.
ESfA: Hängt das mit Wirksamkeit zusammen? Wenn Kinder merken, dass sie in Ihrem Tun etwas verändern können, setzen sie sich viel mehr dafür ein, als wenn sie einfach nur etwas reproduzieren sollen.
Maike van den Boom: Ja, das ist natürlich so. Das ist die Frage des Sinns, also, wenn ich einen Sinn darin sehe etwas zu tun. Den Sinn kann ich aber nur erfassen, wenn ich eine Antwort auf die Frage „Warum?“ bekomme. Wie gesagt, es geht um das Verstehen. Wenn wir den großen Kontext sehen und wissen, warum wir etwas tun, dann wissen wir auch, dass wir etwas bewirken können. Und wenn es auch noch wichtig für andere ist, kommt noch der Faktor „bedeutungsvoll für andere sein“ hinzu. Und dann sind wir schon wieder beim Faktor „Wir“, der wiederum glücklich macht. Das hängt alles zusammen. Wenn ich immer nur reproduziere, mache ich nichts Bedeutungsvolles. Und deshalb ist ja diese Frage nach dem Warum so wichtig, die eigentlich 20-mal im Unterricht gestellt werden müsste und zwar vor allem von den Schülern. Lehrer sollten Fragen lieben.
ESfA: Du bist Mitglied im European Bildung Network (Better Bildung, Better Europe). Was ist das genau?
Maike van den Boom: Es ist eine recht junge Initiative, die aus Kopenhagen kommt. Es geht darum das demokratische Wertesystem in Europa zu erhalten. Es steht unter dem Motto:
Bildung is knowing your roots and being able to imagine the future
Man vernetzt sich und tauscht sich aus. Es geht auch darum, wer wir in Europa sind und was auf uns einwirkt. Menschen, die sich vollständig und selbständig entwickeln und einen Sinn für die Gemeinschaft erworben haben, können am besten gegen undemokratische Strömungen standhalten. Im Mai 2020 findet dazu ein European Bildung Day in Kopenhagen statt.
Maike van den Boom: „DIE DEUTSCHEN GLÜCKLICHER ZU MACHEN … das ist mein Ziel“
Maike van den Boom ist eine gefragte Glücksforscherin. Sie wurde 1971 in Heidelberg geboren und studierte in den Niederlanden Kunsttherapie. Nach diversen (Management) Jobs in den Niederlanden und Mexiko ist sie immer wieder erstaunt über die beharrlichen Vorbehalte gegenüber den Vorteilen eines glücklichen Lebens. Vor allem in Deutschland.
Die Frage, ob Glück eine Frage der Mentalität ist, führt sie in die 13 glücklichsten Länder der Welt. Sie spricht vor Ort mit Wissenschaftlern, Unternehmern, Korrespondenten und Passanten. Ihr Buch zur Reise „Wo geht’s denn hier zum Glück?“ bewegt die Deutschen und wird 2015 ein Bestseller. In Ihrem neuesten Buch Acht Stunden mehr Glück, geht Sie der Frage nach, warum Menschen in Skandinavien glücklicher arbeiten und was wir von ihnen lernen können. Heute tritt sie heute als Rednerin, Trainerin und Beraterin auf. Ihre Mission ist es, die Deutschen etwas glücklicher zu machen.
>>Link zum World Happiness Report“ der Vereinten Nationen
Das sind die Top 10 der glücklichsten Länder der Welt 2019:
- Finnland
- Dänemark
- Norwegen
- Island
- Niederlande
- Schweiz
- Schweden
- Neuseeland
- Kanada
- Australien