Positionspapier des Forum Bildungspolitik:
    Zur Regelung des Übertritts nach der 4. Klasse in Bayerns Schulen

    Eine Schule für Alle in Bayern e.V. veröffentlicht hier als Mitglied des
    Forum Bildungspolitik in Bayern e.V. das aktuelle Positionspapier vom 21. Juni 2021

    Ihr könnt es hier komplett als PDF herunterladen: FB Positionspapier Übertritt – Freier Schritt

    Übertritt?
    Freier Schritt !!!

    Es könnte alles so einfach sein, wenn alle Schüler*innen wie in nahezu allen demokratischen Nachbarländern auch, von der 1. bis zur 10. Klasse miteinander
    lernend zusammenwachsen könnten. Vielfalt, Inklusion, voneinander lernen und miteinander leben wären die positiven Effekte, von denen alle profitieren würden. Stattdessen zieht man in Bayern eine traditionelle Aufteilung in vermeintlich homogene Schularten zur scheinbaren Erhöhung der Leistung vor. Dabei nimmt man billigend in Kauf, dass die Schullaufbahn vieler Schüler*innen von Sitzenbleiben, Abschulungen (einem Aufsteiger ins Gymnasium stehen 19 Abstiege gegenüber1), Schulangst, Schulabbrüchen ohne Abschluss und Prüfungsmarathons beim Übertritt und ggf. im Probeunterricht geprägt ist. Jedes Jahr führt der Übertritt in weiterführende Schulen zu gestressten Lehrkräften, angespannten Eltern und unglücklichen Kindern. Sie leiden unter dem spürbaren Leistungsdruck und dem nahenden Abschied von Freund*innen, bekannten Lehrkräften und der vertrauten Grundschule.

    Ganz entscheidend erscheint uns zusätzlich die verfassungsrechtliche Dimension bei der in Bayern vorherrschenden Regelung der „verbindlichen Übertrittsempfehlung“ (ein Widerspruch in sich selbst), denn sie verstößt aus unserer Sicht gegen die Elterngrundrechte der bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes, welches den Eltern das (prinzipielle) Recht einräumt selbst zu entscheiden, welche weiterführende Schule und insbesondere welchen Schultyp ihr Kind besucht.

    Als Forum Bildungspolitik nehmen wir deshalb und auch gerade im Hinblick auf die Schüler*innen, die in sehr jungen Jahren diesem Selektionsdruck ausgesetzt sind, Stellung, denn diese Übertritte sind für Kinder und unsere Gesellschaft schmerzhaft und grausam:

    • sie verschärfen Bildungsungerechtigkeit
    • sie trennen Kinder
    • sie verursachen Stress und Entmutigung, sie machen Kinder psychisch und physisch krank
    • sie wirken nachteilig auf die pädagogische Arbeit, die Lernkultur und das Klassenklima während der gesamten Grundschulzeit.
    • sie stören sowohl die Lehrkraft-Eltern-Beziehung, als auch die Lehrkraft-Schüler*innen-Beziehung
    • sie bauen auf nur scheinbar objektive Notengebung, zerstören Leistungsbereitschaft und führen zu nicht förderlicher Konditionierung im Lernverhalten

    Potentialentfaltung
    JA!!!

    Die Grundschule der Zukunft ist eine Schule individuellen und gemeinsamen Lernens! Gelingendes Lernen ist ein individueller, sehr subjektiver Vorgang, der in sozialen Kontexten erfolgt sowie regelmäßigen Austausch und Dialog mit der Lerngemeinschaft erfordert.
    Längeres gemeinsames Lernen ist sinnvoll, denn:

    • es gibt allen Kindern mehr Zeit für Entfaltung
    • kooperatives, interessengeleitetes Lernen, Vielfalt und Inklusion werden so erst möglich
    • so kann ein nachhaltiges, fachliches und soziales Lernklima geschaffen werden
    • Freude am Lernen und Entdecken, Selbstwirksamkeit und gegenseitige Unterstützung rücken so in den Vordergrund
    • die Lernleistung in heterogenen Gruppen steht denen in (scheinbar) homogenen Gruppen in nichts nach, hat sogar Vorteile, z.B im sozialen Lernen

    Forderung des Forum Bildungspolitik:

    1. Freigabe des Elternwillens nach Beratung durch Lehrkraft
      Solange Bayern an der Selektion nach der 4. Klasse festhält, sollte das Kultusministerium aus unserer Sicht den Eltern, gerne nach Beratung durch die Lehrkraft, die Entscheidungshoheit über die Schullaufbahn des eigenen Kindes übertragen. Die Kritik, die Freigabe des Elternwillens bestätige bestehende Strukturen (Akademiker-Kinder ans Gymnasium, Migranten- und arme Kinder an die Hauptschulen), ist richtig, aber dies geschieht auch jetzt ohne Freigabe des Elternwillens. Leidtragende sind jedoch im Augenblick fast ausschließlich die Schüler*innen und Lehrer*innen, die unter diesem künstlichen Druck immer mehr leiden.
    2. Längeres gemeinsames Lernen
      Je länger, desto besser. Denn dann können alle Kinder und Jugendlichen – die mit besonderen Fähigkeiten oder mit Beeinträchtigungen, solche aus anderen Kulturkreisen und aus allen gesellschaftlichen Schichten – lernen mit- und voneinander. Ihre Verschiedenheit ist eine Bereicherung, da sie Quelle neuen Lernens ist. In Europa erreichen Länder mit integrativen Schulsystemen bei PISA Spitzenplätze: die skandinavischen Länder oder Südtirol.

    Zur Begründung:

    Der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tilmann bringt die Übertrittsproblematik auf den Punkt: „Die These, dass in leistungshomogenen Gruppen insgesamt bessere Leistungsergebnisse erzielt werden als in leistungsheterogenen, wurde in der empirischen Forschung durchgängig nicht bestätigt. Die zentrale Legitimationsthese unseres gegliederten Schulsystems wird damit empirisch nicht gestützt. Die internationalen PISA-Ergebnisse haben dies noch einmal sehr deutlich gemacht.“ 2
    Und Prof. Dr. Renate Valtin ergänzt, dass wir in Deutschland keine leistungsgerechte Zuweisung zu den weiterführenden Schulen haben: „Wir haben keine Leistungs-, sondern eine Herkunftselite, ein Befund, der in eklatanter Weise die strengen Vorgaben der Kultusministerkonferenz verletzt.“ 3
    Der Jurist Dr. Sebastian Glock sieht darin auch ein rechtliches Dilemma, das da heißt: Es wird im jetzigen Übertrittsverfahren Ungleiches gleichbehandelt, was mit dem Grundgesetz kollidiert. Der Gesetzgeber darf nämlich „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleichbehandeln.“ 4

    Zitate/Belege:

    1 Amtliche Schuldaten des Landesamtes für Statistik 2015/16 und https://paedagokick.de/neusprech-9-durchlaessigkeit/.
    2 Tillmann, K.-J. (2007, März). Kann man in heterogenen Lerngruppen alle Schülerinnen und Schüler fördern? Der Blick der Bildungsforschung in das Regelschulsystem. Symposion „Fördern und Fordern – Unterschiede sehen, akzeptieren, nutzen“, Köln. S. 11.
    3 Valtin, R. (2012). Auf dem Weg zu einer besseren Schule – bildungspolitische Folgerungen aus der 2. Jako-o Bildungsstudie, in Killius, Dagmar, Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg): Eltern ziehen Bilanz. Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland, Waxmann. S. 172.
    4 Glock, S. (2008). Der Gleichheitssatz im Europäischen Recht : Eine rechtsvergleichende Analyse unter Berücksichtigung der Rechtsprechung in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des EGMR und des EuGH, Gießen, S. 16.

    Das Forum Bildungspolitik in Bayern e.V. setzt sich aus diesen Mitgliedsorganisationen derzeit zusammen:

     Akademie für Ganztagsschulpädagogik (AfG)  Aktion gute Schule e. V. Aktion Humane Schule Bayern  Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten-und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY)  Arbeitsgemeinschaft der Elternverbände Bayerischer Kindertageseinrichtungen e. V. (ABK)  Bayerischer Elternverband e. V. (BEV)  Bayerischer Jugendring (BJR)  Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e. V. (BLLV)  Bayerischer Volkshochschulverband e.V. (bvv)  Bund der Deutschen Katholischen Jugend – Bayern (BDKJ)  Bündnis zur Erneuerung der Demokratie (BED)  Dachverband Bayerischer Träger für Kindertageseinrichtungen e.V. (DBTK)  Deutscher Caritasverband Landesverband Bayern e. V.  Deutscher Familienverband – Landesverband Bayern e. V. (DFV)  Deutscher Gewerkschaftsbund, (DGB), Bezirk Bayern  Deutscher Kinderschutzbund – Landesverband Bayern e. V. (DKSB)  Eine Schule für Alle – in Bayern e. V.  European Democratic Education Community (Eudec)  Fachverband für Kunstpädagogik, BDK e. V.  Gemeinsamer Elternbeirat für die Grundschulen der Landeshauptstadt München (GEB GS)  Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Bayern e.V. (GEE)  Gesamtverband Evangelischer Erzieher und Erzieherinnen in Bayern e. V. (GVEE)  Gesellschaft macht Schule gGmbH (GmS)  Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Landesverband Bayern (GEW)  Grundschulverband e.V. Landesgruppe Bayern. (GSV)  InitiativGruppe – Interkulturelle Begegnung und Bildung e. V. (IG)  Institut für Zusammenarbeit im Erziehungsbereich (IFZE)  JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis  Landesarbeitsgemeinschaft Bayerischer Familienbildungsstätten e. V.  Landesarbeitsgemeinschaft Bayern Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e. V.  Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Bayern e. V.  Landes-ASten-Konferenz Bayern (LAK)  LandesschülerInnenvereinigung Bayern e. V. (LSV)  Landesverband Bayerischer Schulpsychologen e. V. (LBSP)  Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. Bayern (LVL)  Landesvereinigung Kulturelle Bildung Bayern e. V. (LKB:BY)  Lernwirkstatt Inklusion e.V.  Montessori Landesverband Bayern e. V.  Netzwerk Ganztagsbildung  Netzwerk Inklusion Bayern e.V.  PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e.V. StadtschülerInnenvertretung München  Sudbury München e. V.  Verband Berufstätiger Mütter e. V. (VBM)  Verband Sonderpädagogik e. V. (vds)

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