Ein Fehltritt für die Ewigkeit: Thesen zum Übertritt aus der Grundschule
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Komplett als PDF zum Runterladen: Thesen zum Übertritt
Die bayerischen Regelungen zum Übertritt nach der 4. Klasse sind besonders streng, detailliert – und misslungen. Dieser Fehltritt wird seit Jahrzehnten wiederholt, aber dadurch nicht besser. Die Verantwortlichen scheinen darin eine Regelung für die Ewigkeit zu sehen und bügeln jeden Reformversuch schon im Ansatz ab. Eine Annäherung in 11 Thesen.
- These 1: Die Selektionsfunktion der Schule ergibt sich weder aus der bayerischen Verfassung noch aus dem Gesetz (BayEUG). Sie ist lediglich Folge einer Schulstruktur, die politisch gewollt ist.
- These 2: Die Selektionsfunktion der Schule steht in Konkurrenz zu den Aufgaben, die ihr nach Verfassung und Gesetz übertragen sind.
- These 3: Selektion steht in logischem Widerspruch zu Inklusion und erschwert deshalb die praktische Erfüllung der UN-Behindertenrechtskonvention.
- These 4: Eine Schule des längeren gemeinsamen Lernens könnte diesem Missstand abhelfen.
- These 5: „Geeignete“ Schülerinnen und Schüler im Sinne der selektierenden Aufnahmebedingungen von Realschule und Gymnasium sind ausschließlich solche, die die Übertrittsnoten erreichen. Diese Noten sind einerseits nicht konzeptionell schlüssig abgeleitet, sondern willkürlich gesetzt, und unterliegen andererseits politischen Einflüssen.
- These 6: Abschulungen und Abschlüsse zeigen, dass die Übertrittsnoten nicht unbedingt die Leistungsfähigkeit eines Kindes widerspiegeln und deshalb eine unzureichende Grundlage für Laufbahnentscheidungen sind.
- These 7: Die Übertrittsnoten spiegeln zwar Leistung wider, aber es ist immer eine „Leistung mit einer Geschichte“.
- These 8: Die Schulstruktur in Bayern ist so eng mit dem Erleben der Bevölkerung verwoben, dass eine Veränderung von Schularten auf massive Widerstände trifft. Die Struktur kann nicht angetastet werden.
- These 9: Die Schulstruktur kann ergänzt werden.
- These 10: Die Notwendigkeit der Ergänzung der Schulstruktur in Bayern durch Formen des gemeinsamen Lernens ergibt sich aus mehreren Begründungszusammenhängen.
- These 11: Eine Schule des längeren gemeinsamen Lernens erleichtert die Etablierung eines Ausbildungsganges zur Stufenlehrkraft. Diese wiederum bietet die Möglichkeit den „Schweinezyklus“ endlich zu überwinden.
These 1: Selektion, Verfassung und Gesetz
Die Selektionsfunktion der Schule ergibt sich weder aus der bayerischen Verfassung noch aus dem Gesetz (BayEUG). Sie ist lediglich Folge einer Schulstruktur, die politisch gewollt ist.
Erläuterung: Die Tatsache, dass es außerhalb und innerhalb Deutschlands auch andere Schulsysteme gibt, die keine Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach der 4. Klasse erzwingen und trotzdem erfolgreich sind, belegt, dass es keine natürliche, pädagogische oder entwicklungspsychologische Notwendigkeit für die Aufteilung der Kinder im Alter von zehn Jahren gibt. Sie resultiert vielmehr aus dem Zusammenspiel von politischem Willen und der Verstetigung durch Tradition.
These 2: Selektion als konkurrierende Aufgabe
Die Selektionsfunktion der Schule steht in Konkurrenz zu den Aufgaben, die ihr nach Verfassung und Gesetz übertragen sind.
Erläuterung: Die Bildung von Herz und Charakter, wie sie die Bayerische Verfassung in Art. 131 (1) verlangt, wird in der 4. Klasse erschwert durch den permanenten Druck, bestimmte Themen zu behandeln und eine festgelegte Anzahl von übertrittsrelevanten Noten bilden zu müssen: Die Lehrerinnen und Lehrer haben weder den pädagogischen Freiraum, sich ausreichend um die individuellen Besonderheiten ihrer Schülerinnen und Schüler kümmern zu können (Förderbedarfe, besondere Begabungen, akute Freuden und Leiden usw.), noch können sie solchen pädagogisch fruchtbaren Momenten und Themen den gebührenden Raum gewähren, die „Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt“ nach Art. 131 befördern könnten und müssten. Zu viele Kinder leiden unter dem Zwang zur Selektion, was viele Eltern an der Sinnhaftigkeit der Aufteilung zweifeln lässt.
These 3: Selektion im Widerspruch zur Inklusion
Selektion steht in logischem Widerspruch zu Inklusion und erschwert deshalb die praktische Erfüllung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Erläuterung: BayEUG Art 2 (2) verlangt deutlich: „Inklusiver Unterricht ist Aufgabe aller Schulen.“ Ebenso deutlich ist die Einschätzung der UN-BRK-Monitoringstelle: „Während Bundesländer wie Bremen den Auftrag zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts bereitwillig angenommen haben, haben sich andere Bundesländer, etwa Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland oder Sachsen-Anhalt, – vielleicht nicht rhetorisch aber der Sache nach – nicht hinreichend engagiert.“
These 4: Die inklusive Schule des längeren gemeinsamen Lernens
Eine Schule des längeren gemeinsamen Lernens könnte diesem Missstand abhelfen.
Erläuterung: Gymnasium und Realschule sind strukturell, funktional und inhaltlich selektiv konzipiert, indem sie nur „geeignete“ Schülerinnen und Schüler aufnehmen, können also keineswegs inklusiv im Sinne der UNBRK und des BayEUG Art 2 (2) sein. Der Inklusionsauftrag dürfte sich konsequenter Weise nicht auf die Schularten erstrecken, die ihre Schülerinnen und Schüler auswählen und müsste präzisiert werden. Die Alternative wäre, diese Schulen in ihrer Substanz und Verfasstheit zu verändern, was große gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge hätte. Als gangbarer Weg erscheint dagegen die Ermöglichung einer Schulart des längeren gemeinsamen Lernens, auch in Bayern. Dies würde die Öffnung des allgemeinen Schulsystems und die Aufhebung von Doppelstrukturen gewährleisten, wie sie die UN-BRK verlangt: „Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat 2016 in seiner Allgemeinen Bemerkung zum Recht auf inklusive Bildung erläutert, was die Verpflichtung zur Schaffung eines inklusiven Systems konkret bedeutet. Dabei hat er erneut hervorgehoben, dass Staaten, die neben dem regulären Schulsystem ein Sonderschulsystem aufrechterhalten, ihre Verpflichtung nicht erfüllen.“
These 5: Übertrittsnoten sind willkürlich
„Geeignete“ Schülerinnen und Schüler im Sinne der selektierenden Aufnahmebedingungen von Realschule und Gymnasium sind ausschließlich solche, die die Übertrittsnoten erreichen. Diese Noten sind einerseits nicht konzeptionell schlüssig abgeleitet, sondern willkürlich gesetzt, und unterliegen andererseits politischen Einflüssen.
Erläuterung: Ich behaupte, es gibt keine wissenschaftlich schlüssige Herleitung eines Notenschnittes von 2,33 als Näherbestimmung des „geeignet“ in der Schulordnung für das Gymnasium und 2,66 für die Realschule. Dies sind willkürliche Setzungen, die sich bestenfalls aus Erfahrungswerten ergeben und mittlerweile als unabänderliche Traditionen verstetigt haben. Eine Aufweichung dieser Setzungen fand statt, als der damalige KM Dr. Spaenle und die CSU-Landtagsfraktion dem Druck von Elternseite dadurch nachgaben, dass sie auch nach lediglich „ausreichenden“ Leistungen ihrer Kinder im Probeunterricht (der seinerseits auch bereits eine Relativierung der Übertrittsnoten darstellt) ihren Elternwillen zum Übertritt auf die gewünschte Schulart durchsetzen konnten und können. Ob durch diese Anpassung des Übertrittsverfahrens wirklich immer „geeignete“ Schülerinnen und Schüler gefunden werden, darf bezweifelt werden.
These 6: Abschulungen und Abschlüsse
Abschulungen und Abschlüsse zeigen, dass die Übertrittsnoten nicht unbedingt die Leistungsfähigkeit eines Kindes widerspiegeln und deshalb eine unzureichende Grundlage für Laufbahnentscheidungen sind. 4 RSO §2 und GSO §2 Seite 4
Erläuterung: Die zahlreichen jährlichen Abschulungen aus Realschule und Gymnasium zeigen, dass sehr viele Kinder das Versprechen, das ihre Übertrittsnoten gegeben haben, nicht auf Dauer halten können. Die zahlreichen Mittleren Schulabschlüsse an Mittelschulen und Berufsschulen und die ebenfalls sehr häufigen Hochschulzugangsberechtigungen, die nicht über das Gymnasium erworben werden, zeigen, dass die Übertrittsnoten keineswegs alle leistungsfähigen Kinder offenbaren.
These 7: Die Geschichte einer Leistung
Die Übertrittsnoten spiegeln zwar Leistung wider, aber es ist immer eine „Leistung mit einer Geschichte“.
Erläuterung: Bei der Verwendung des Leistungsbegriffes muss man unterscheiden zwischen dem, was ein Kind von sich aus leisten kann (Begabungskomponente), wie dies durch seine familiäre und soziale Situation gefördert oder behindert wird (Herkunftskomponente), was es als Leistung in einem Test oder einer Probearbeit zeigen kann (aktuelle Einflüsse) und was die Lehrkraft als Leistung erkennt und anerkennt (subjektive Komponente) .
These 8: Beharrung der Schulstruktur
Die Schulstruktur in Bayern ist so eng mit dem Erleben der Bevölkerung verwoben, dass eine Veränderung von Schularten auf massive Widerstände trifft. Die Struktur kann nicht angetastet werden.
Erläuterung: Die vorhandenen Schularten haben Eingang gefunden in die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Menschen, sie haben Auswirkungen auf das Image der Schularten und die Aspirationen von Eltern und Heranwachsenden, darüber hinaus auch Folgen für das Selbstbild und die Besoldung der Lehrkräfte. Ansätze von Veränderungen wurden zwar in einigen bayerischen Gemeinden von den Eltern und Räten gewünscht, wurden aber von Anfang an insbesondere vom CSU-geführten Kultusministerium und aus den Reihen der Realschule heftig bekämpft.
These 9: Ergänzung der Schulstruktur
Die Schulstruktur kann ergänzt werden.
Erläuterung: Ein Nebeneinander von traditionellen und neueren Schularten, wozu die in den 70er Jahren eingeführten Gesamtschulen gezählt werden sollen, ist auch in Bayern rechtlich und praktisch möglich. Bundesweit zeigt sich eine Tendenz zur Zweigliedrigkeit von Gymnasium einerseits und einer Schule mit mehreren Bildungsgängen andererseits.Die Zusammenfassung von Bildungsgängen kann auch aus demografischen Gründen angezeigt sein.
These 10: Notwendigkeit der Ergänzung
Die Notwendigkeit der Ergänzung der Schulstruktur in Bayern durch Formen des gemeinsamen Lernens ergibt sich aus mehreren Begründungszusammenhängen.
Erläuterung: Wie in den bisherigen Ausführungen dargestellt:
- Die Selektionsfunktion der Grundschule steht im Widerspruch zu einigen ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben und zur UN-Behindertenrechtskonvention.
- Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarschularten ist nach willkürlich gesetzten und unsystematisch relativierten Noten geregelt.
- Die Noten spiegeln nicht die Leistungsfähigkeit und das Potenzial vieler Kinder wider.
- Schulsysteme mit Schularten des längeren gemeinsamen Lernens existieren innerhalb und außerhalb Deutschlands erfolgreich.
- Eine Schulart des längeren gemeinsamen Lernens kann den Auswirkungen des demografischen Wandels in Bayern besser begegnen als die reine Dreigliedrigkeit.
These 11: Stufenlehrkraft statt Schweinezyklus
Eine Schule des längeren gemeinsamen Lernens erleichtert die Etablierung eines Ausbildungsganges zur Stufenlehrkraft. Diese wiederum bietet die Möglichkeit den „Schweinezyklus“ endlich zu überwinden.
Erläuterung: In einer Schulart, die alle Bildungsgänge umfasst, können Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, die auf jeweils einer Stufe für alle Schularten ausgebildet sind. Wenn die Universitäten diese Alternative anbieten und die Besoldung mit dem Einstiegsgehalt A13 gewährleistet ist, werden angehende Lehrkräfte zur Sicherung ihrer Anstellungsfähigkeit vermehrt diese Chance wahrnehmen. Sie weichen dadurch den Schwankungen des Schweinezyklus aus10 . Den ausgebildeten Mittelschullehrkräften ist die Möglichkeit einzuräumen, eine Zusatzausbildung zur Stufenlehrkraft wahrzunehmen.
Roland Grüttner im Oktober 2021