Rede von Amelie, Schülerin am Bildungsprotest 23.9.2023 in München
Hallo, es ist so wichtig, dass ihr hier seid! Vielen Dank!
Ich bin heute hier, weil ich als Schülerin jeden Tag selbst erlebe, was in unserem Schulsystem alles falsch läuft.
Wer von euch wünscht sich nicht eine Schule, in die alle Schüler*innen gerne gehen? Eine Schule, auf die sich alle am Morgen freuen.
Wir sind heute hier, weil wir eine echte Bildungswende hin zu einem gerechten, inklusiven und zukunftsfähigen Bildungssystem fordern!
Denn obwohl wir eine grundlegende Bildungsreform dringend brauchen, stecken wir immer noch in einem Schulsystem aus dem letzten Jahrhundert fest.
Zukunftsfähiges Bildungssystem für die Herausforderungen der Zukunft
Die Welt hat sich aber in letzten 100 Jahren rapide verändert. Die Schule nicht! Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen der Menschheit. Die Klimakrise. Wir Schüler*innen werden später diejenigen sein, die maßgeblich damit zu kämpfen haben. Wie bereitet uns die Schule darauf vor?
Die Welt wird immer komplexer und vernetzter. Wie bereitet uns die Schule darauf vor?
Fremdbestimmung und kaum Individualität
Wenig Individualität und viel Fremdbestimmung. Das ist in unserem Schulsystem ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert.
Jeden Tag steht eine Lehrkraft vor uns, die uns genau sagt, was wir zu tun haben.
Was wir lernen, wie der Schultag abläuft, wie geprüft wird… all das wird nicht von uns mitbestimmt. Alle müssen zur selben Zeit das gleiche Lernen und zum selben Zeitpunkt den gleichen Test schreiben. Wo bleibt da die Individualität?
Für Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, Potenzialentfaltung und Kreativität bleibt kein Platz.
Wie sollen wir aber in einem derart fremdbestimmten und autoritärem System Demokratie leben?
Gerade jetzt, wo Rechsextreme und Populist*innen immer stärker werden, muss Schule zu einem Ort gelebter Demokratie werden! Man muss jeden Tag erleben, dass die eigene Stimme zählt, dass man gehört wird und dass man mitbestimmen kann.
Demokratie kann man nicht vom Arbeitsblatt lernen.
Was beim Lernen falsch läuft…
Kein effizientes und nachhaltiges Lernen
Wir haben ein Bildungssystem, in dem nicht Zukunftskompetenzen, sondern Lehrpläne an oberster Stelle stehen.
Um diese Lehrpläne zu erfüllen, müssen wir möglichst viel Schulstoff in kurzer Zeit lernen – nur um ihn kurz nach der Prüfung wieder zu vergessen.
Das ist kein nachhaltiges Lernen!
Lernen unter Druck und Stress
Alles, was nur irgendwie bewertet werden kann, wird auch bewertet. Das führt dazu, dass Schüler*innen viel zu oft unter Druck und Stress lernen. Das ist nicht lernförderlich. Im Gegenteil. Wie der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer sagt „Wer unter Angst lernt, der lernt die Angst gleich mit“ und das ist ganz schlecht.
Rechenschaftsablagen
Bei Rechenschaftsablagen wird enorm viel Druck und Stress erzeugt, wenn Schüler*innen nahezu jede Schulstunde unangekündigt vor der ganzen Klasse abgefragt werden. Ich kann nicht verstehen, warum in bayerischen Schulen immer noch auf diese Art und Weise geprüft wird.
Wenn ich abgefragt werde, dann fühle ich mich in die Schule meiner Großeltern zurückversetzt. Wo bleibt hier die zeitgemäße Prüfungskultur auf Augenhöhe?
Ich finde, es läuft etwas im Schulsystem falsch, wenn Kinder in der 5. Klasse nach einer Abfrage weinen. Es läuft etwas falsch, wenn Schüler*innen wegen einer Abfrage Schule schwänzen, weil sie das Thema nicht verstehen.
Lernen muss Spaß machen! Das ist auch wissenschaftlich belegbar. Die Schlüssel für gelingendes und nachhaltiges Lernen sind intrinsische Motivation und Begeisterung.
Diese eine Lehrkraft…
Jede*r von euch kann sich bestimmt an diese eine Lehrkraft erinnern, die euch motiviert und begeistert hat. Diese eine Lehrkraft, die anders war, die es besser gemacht hat.
Solche Lehrkräfte brauchen wir dringend, um das Schulsystem von innen heraus zu verändern. Aber trotzdem haben auch diese Lehrkräfte viel zu wenig Freiraum. Viele von denen, die für ihren Beruf brennen, brennen leider aus. Die Burn-Out-Quote ist bei Lehrer*innen besonders hoch.
Aber auch diese Lehrkräfte müssen selektieren, bewerten und Noten vergeben….
Negative Folgen von Noten
Ihr alle habt euch bestimmt schon einmal ungerecht benotet gefühlt. Das liegt daran, dass Ziffernnoten keine guten Messkriterien sind.
Wie soll kognitive Leistung auch mit einer Zahl bewertet und verglichen werden? Mit Noten wird das unvergleichbare vergleichbar.
Selektion
Vor allem sind Noten aber ein Instrument der Selektion. Diese Selektion beginnt schon in der 4. Klasse mit dem Grundschulabitur. Davon profitiert keiner: Lehrkräfte sind gestresst, Eltern besorgt und Kinder überfordert.
Übertritt
In keinem anderen Industrieland hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft der Eltern ab wie in Deutschland. Das ist so ungerecht!
Ein großes Problem ist, dass Grundschulkinder schon mit 10 Jahren getrennt werden.
Weil die Kinder eben noch so jung sind, sind sie natürlich auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Wie soll sich denn ein 10 Jähriges Kind in der 4. Klasse selbstständig auf so viele Proben vorbereiten?
Kinder mit Eltern, die ihnen beim Lernen helfen oder Nachhilfe zahlen können, profitieren davon enorm.
Das sieht man daran, dass die Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium zu besuchen, wenn beide Eltern Abitur haben, bei 75% liegt. Wenn sie kein Abitur haben bei 28%.
Ungerechtigkeit im Bildungssystem
Das viergliedrige Schulsystem nimmt Ungerechtigkeit nicht nur in Kauf – sondern verstärkt sie! Das ist ungerecht!
Das Schulsystem benachteiligt migrantisierte Kinder und Kinder aus armutsbetroffenen Familien. Kinder aus nicht akademischen Haushalten haben von Anfang an weniger Chancen in diesem Bildungssystem.
Außerdem setzt Bayern die Inklusion kaum um und benachteiligt dadurch Menschen mit Be_hinderung. Das widerspricht der UN Behindertenrechtskonvention!
Kein Kind darf mehr benachteiligt werden. Alle Schüler*innen müssen die gleichen Chancen haben.
Es darf keine Rolle spielen, ob das Kind eine Be_hinderung hat, neurodivergent ist oder migrantisiert. Es darf keine Rolle spielen, ob die Eltern armutsbetroffen oder Nicht-Akademiker*innen sind!
Das Schulsystem muss sich den Schüler*innen anpassen – nicht andersrum!
Ich wünsche mir eine Schule, auf die sich alle Schüler*innen am Morgen freuen!
Eine Schule, die auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet! Eine gerechte Schule, in der alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen haben.
Ich wünsche mir eine inklusive Schule, in der alle Schüler*innen gemeinsam selbstbestimmt lernen und ihr Potenzial entfalten können!
Dafür stehe ich heute hier.
Ein Bildungssystem grundlegend zu reformieren funktioniert nur, wenn wir Schüler*innen Mitbestimmung in der Bildungspolitik haben. Schule muss von und für Schüler*innen gemacht werden.
Es reicht nicht aus ein falsches System mit Mikroreformen zu optimieren.
Dadurch wird es immer noch falsch bleiben. Was wir brauchen, ist eine grundlegende Neuerfindung vom System Schule. Wir müssen Schule neu denken! Dafür sind wir heute hier.
Für eine Bildungswende. Jetzt!
Rede von Schülerin Amelie am 23.9.2023 während der Demo zum bundesweiten „Bildungswende Jetzt“ Protest.
Am 23. September 2023 sind bundesweit ca. 25.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit, für zukunftsfähige und inklusive Bildung zu demonstrieren.
Weitere Informationen zur bundesweiten Initiative ‚Bildungswende Jetzt!‘ findest Du unter