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Die Statements der Expert*innen in alphabetischer Reihenfolge:
Univ.-Prof. Dr. phil. Habil. Silvia-Iris Beutel
Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, Professur für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Schwerpunkt Lehr-/Lernprozesse und empirische Unterrichtsforschung
„Das Abschaffen von Exen und unangekündigten Abfragen ist keine ‚Kuschelpädagogik‘. Vielmehr geht es darum, die Selbststeuerung und Eigenverantwortung der Schüler*innen
zu stärken. Schulen, die auf flexible, diagnostische Ansätze setzen, bieten klare Strukturen und regelmäßige Rückmeldungen. Diese ermöglichen es den Schüler*innen, ihren Lernfortschritt eigenverantwortlich zu planen und so eine tiefergehende, nachhaltigere Lernentwicklung zu erfahren. Dies ist ein leistungsorientierter Ansatz, der die Zukunftsfähigkeit von Bildung stärkt.“
Bob Blume
Bob Blume ist ein deutscher Lehrer, Sachbuchautor, Blogger, Podcaster und Bildungsinfluencer (@netzlehrer). Er befasst sich mit Themen der Bildung, speziell der digitalen Bildung, dem Referendariat und der Unterrichtsgestaltung.
“Markus Söder hat – wie viele andere, die vor vielen Jahren schon den Schulabschluss gemacht haben – ein unzeitgemäßes Verständnis von Leistung. Und das, obwohl gesellschaftlich längst klar ist, dass dies falsch ist. Es geht eben nicht um Druck, passgenaues Wissen und die Abfrage desselben. Es geht um die Fähigkeit, etwas Neues zu lernen, den Prozess zu verstehen und anzupassen und so zu einem Verständnis von kreativen Wegen zu kommen. Dort, wo Potenziale entfaltet werden, entsteht eine Leistung, die deutlich über das hinausgehen, was Noten aussagen. Aber selbst wenn man dort benoten würde: Es zeigt sich, dass eine unterstützte Leistung auch objektiv besser ist als eine erzwungene. Das Halten an überkommenen Prüfungsformaten aus dem letzten Jahrtausend verhindert, dass Schule sich weiterentwickeln kann. Und das muss sie. Damit Bildung, die einzige Ressource die wir haben, nicht von veralteten, wissenschaftsfernen und schlicht falschen Aussagen bestimmt wird.”
Prof. Dr. em. Hans Brügelmann, Universität Siegen
Hans Brügelmann war Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen. Seit seiner Pensionierung arbeitet er als freier Bildungsjournalist und engagiert sich im Grundschulverband e. V.
“Leistung ist, was jemand aus seinen persönlichen Möglichkeiten macht.
Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler fördern gleiche Aufgaben für alle zur gleichen Zeit deren Leistungsfähigkeit nicht.
Maßstab für erbrachte Leistungen sind die Lernfortschritte der einzelnen. Eine vergleichende Bewertung der Ergebnisse durch Ziffernnoten wird dieser individuellen Lernleistung nicht gerecht.
Zudem ist seit Jahrzehnten durch die Forschung belegt: Noten sind nicht objektiv und sie sind nicht vergleichbar. Ihr Motivationseffekt ist ähnlich gering wie ihr prognostischer Wert.”
Vgl. zur Begründung und zu empirischen Befunden:
Arbeitsgruppe Primarstufe (2014): Sind Noten nützlich und nötig? Zifferzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes, erstellt von der Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen Grundschulverband e.V.: Frankfurt (1. Aufl. 2006). Download: https://t1p.de/notengutachten (Kurzfassung unter: https://t1p.de/noten-kurz )
Peter Fratton
Der Schweizer Peter Fratton gehört zu den renommiertesten Schulgründern und Schulinnovatoren Europas.
„Unangekündigte Leistungsnachweise sind die imaginierten Rohrstäbe jener LeherInnen, die disziplinäre Probleme in ihren Klassen haben.“
Prof. Dr., Dipl.-Psych. Ludwig Haag
bis 2020 Professor für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth. War nach seinem Studium zunächst als Gymnasiallehrer (Klassische Philologie) und Schulpsychologe tätig. Bekannt sind seine methodologisch systematischen Arbeiten, mit denen er wichtige evidenzbasierte Erkenntnisse für verschiedene Bereiche der Pädagogik liefert.
„Ich plädiere für mehr Experimentierfreude bei der Lehrerschaft, denn ein Zurück zum alten System ist jederzeit möglich. Soweit mir bekannt, hat keine Schule, die umgestellt hat, diesen Schritt bereut. Das Argument seitens der Staatsregierung „Wir in Bayern“ kann ich nicht mehr hören. Erstens: In Bayern boomt der Nachhilfemarkt, wovor die Bildungsadministration und die Schulen die Augen verschließen. Ganz geschweige von den nachmittäglichen und Wochenendaktivitäten der Eltern. Zweitens wird in Bayern mit dem Zentralabitur schon immer ein Bulimie-Lernen gefördert: Allein ein exemplarisches Eingeben „Abiturvorbereitung Bayreuith“ in Google zeigt acht unterschiedliche Angebote. Oder die weite Verbreitung der Bände des Stark Verlages zur Abiturvorbereitung zeigen, dass es sich auch in Bayern weniger um ein nachhaltiges Lernen als eher um ein „learning for the test“ handelt.“
Prof. em. Dr. Helmut Heid
Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik Universität Regensburg
“Unangekündigte [angedrohte] Leistungskontrollen begünstigen die Entwicklung der Furcht vor Misserfolg und ruinieren die für die Entwicklung autonomer und kreativer Kompetenzen bzw Persönlichkeiten unentbehrliche Zuversicht auf und die Freude am (Lern-) Erfolg. Menschen – so der Forschungsstand – haben ein „angeborenes“ Bedürfnis, erfolgreich zu sein. Das vermeintliche Erfordernis, unangekündigte Leistungskontrollen durchzuführen, trägt dem nicht Rechnung; es signalisiert und enthält eine Vielzahl von Unterstellungen und rechtfertigt womöglich auch Praktiken, die als bildungspraktisch destruktiv anzusehen sind.
Das gilt nicht nur nach primärer Maßgabe selbstbestimmter Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch bezogen auf die von Bildungsökonomen postulierte Entwicklung international wettbewerbsfähigen Humankapitals.”
Prof. Dr. Martin Heinrich
Universität Bielefeld / Professur für Erziehungswissenschaft
Wissenschaftlicher Leiter der NRW-Versuchsschule Oberstufen-Kolleg an der Univ. Bielefeld
„In einem Online-Impuls der OECD betonte jüngst OECD-Direktor Andreas Schleicher als einer der zentralen Verantwortlichen für die internationalen PISA-Studien, dass mit Blick auf die ökonomische Entwicklung die Soft-Skills des letzten Jahrhunderts zu den Hard-Skills des 21. Jahrhunderts würden. Soziale Kompetenzen, die im Rahmen einer neuen Lernkultur erworben werden können, gewinnen damit zunehmend an Bedeutung für unsere wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung in Frieden und Demokratie. Wie soll ein Schulsystem glaubhaft solche Future Skills vermitteln, wenn es mit dem ‚Exen‘ auf der Beibehaltung einer Prüfungskultur des letzten Jahrhunderts besteht?“.
Weitere Hintergrundinformationen: https://pruefungskultur.de/
Reinhard Kahl:
Reinhard Kahl, Erziehungswissenschaftler, Autor und Filmemacher, z.B. die Doku „Treibhäuser der Zukunft – wie Schule in Deutschland gelingen“
„Mit einem gewissen Stolz kann ich sagen, dass ich 1996 in einem Kommentar in der taz das Wort „Lernbulimie“ in die Welt gesetzt habe. Das ist wie alle Schüler (mwd) und auch die meisten Lehrer wissen ekelig und nährt auch nicht. Es ist tatsächlich zum Kotzen. Vor allem, dass es immer so weiter geht und dass diejenigen, die in Tests am bravsten kotzen auch die besten sein sollen. Doppelkotz. Wenn es so weiter geht, gibt es nur noch ein Hauptfach: Durchkommen “
Jun-Prof. Dr. Steve Kenner
Jun.-Professor für „Politikwissenschaft und ihre Didaktik“ an der Pädagogischen Hochschule Weingarten
„Der pädagogische Wert unangekündigter Tests und spontaner Abfragen vor der Klasse ist aus bildungswissenschaftlicher Sicht zu bezweifeln. Ziel ist in erster Linie das Absichern bloßer Wissensreproduktion, aber auch die Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen durch das Ausüben von Macht sowie durch das Erzeugen von Unsicherheit und Angst. Mit emanzipatorischer Bildung hat das wenig zu tun. Für die politische Bildung gilt ganz klar: Wissen über die Demokratie lässt sich möglicherweise in spontanen Tests abprüfen, Demokratie verstehen, gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, beurteilen, kritisieren – dafür braucht es aber eine ganz andere Lern- und Prüfungskultur. Gleichzeitig ist das Verhalten des bayerischen Ministerpräsidenten, der einen demokratischen Beteiligungsprozess – initiiert von jungen Menschen – per Machtwort unterbinden will, als Lehrstück für den Politikunterricht geeignet. So wird Vertrauen in die Demokratie Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Inklusive Bildung, TU Dresden, Initiatorin und wissenschaftliche Leiterin des Schulversuchs Universitätsschule Dresdenuml;rkt, sondern auf eine harte Probe gestellt.“
Prof. Dr. Anke Langner
Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Inklusive Bildung, TU Dresden, Initiatorin und wissenschaftliche Leiterin des Schulversuchs Universitätsschule Dresden.
„Die Gesellschaft hat sich in den letzten 10 Jahren extrem verändert. Dies gilt zum Beispiel für die Zugänglichkeit von Wissen, aber auch für die Lernausgangslagen und das Lernverhalten von Schüler:innen. Was sich hingegen kaum verändert hat, ist Schule. In der aktuellen Situation müssen Schüler:innen durch die Schule – wie im OECD Bildungskompass formuliert – zu einer kritischen, kreativen und reflektierten Wissensproduktion befähigt werden. Diese Kompetenzen benötigen Lernformate mit stärkerer Selbststeuerung und Mitbestimmung und diese wiederum bedürfen anderer Formate der Prüfung. Wirtschaftliche Leistung entsteht durch selbstwirksame, kreative und innovative Menschen, die sich miteinander entwickeln können. Wie gut Schule Schüler:innen darauf vorbereitet, daran sollte sich schulische Bildung in Zukunft messen lassen.“
Dr. Michael Kirch
Dr. phil. Michael Kirch, Lehrstuhl für Grundschulpädagogik- und didaktik, Ludwig-Maximilians-Universität und ehemals akademischen Rat.
„Angst ist ein schlechter Ratgeber, wenn es um eine nachhaltige Leistungserziehung geht!“
Prof. Dr. Eckhard Klieme
DIPF | Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
Leibniz Institute for Research and Information in Education – Frankfurt am Main, Germany
Das Verständnis von Leistung, das Markus Söder hat, stammt aus dem vorletzten Jahrhundert: nur was unter Druck erkämpft, in ständigen Prüfungen belegt und mit Noten beziffert ist, das zählt“.
Und: „Herr Söder argumentiert unehrlich, wenn er behauptet, die Petition wolle alle Noten abschaffen und das Sitzenbleiben gleich mit. Auch darüber könnte man in der Tat reden – beispielsweise mit Blick auf Japan, wo es kein Sitzenbleiben gibt -, aber die Petition richtet sich nur gegen überflüssige und pädagogisch kontraproduktive Formen der Leistungskontrolle – nicht mehr und nicht weniger.“
Frau Susanne Krämer
Projektleiterin bei AbiK – „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur“ im Zentrum für Lehrer:innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig.
“Das heutige Schulsystem zeigt sich insbesondere in Bayern resistent gegen jede Form der Veränderung, die aufgrund wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Transformation absolut notwendig sind, denn auch Herr Söder wird nicht bestreiten, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in den letzten 50 Jahren verändert haben. Das die Kehrseite der aktuellen Prüfungsmethoden psychosomatische Beschwerden sind, von denen fast jedes zweite 15-jährige Mädchen mindestens einmal pro Woche betroffen ist, trägt weder zu Leistung noch zu dem Kompetenzerwerb bei, den unsere Wirtschaft und Gesellschaft braucht. Sozial-emotionale Kompetenzen, kreative Lösungsansätze, kritisches Denken, Ambiguitätstoleranz, Kooperations- und Teamfähigkeit aber auch Wissens- und Handlungskompetenz sind nicht unter Angst und Leitungsdruck zu entwickeln, sondern brauchen eine respektvolle Lernbegleitung.”
Prof. Dr. Harald Lesch
deutscher Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und Hörbuchsprecher. Er ist Professor für Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München
Das Zitat ist aus dem Video-Statement, das Sie auf Instagram abrufen können.
“Also diese Petition verlangt doch etwas, was wir uns, sind wir doch mal ehrlich, alle gewünscht hätten. Abschaffen von unangekündigten Exen. Was war das für ein Krampf! Was hat man sich gefreut, als das endlich in der Oberstufe nicht mehr passiert ist! Das war doch super. Also ich bin unbedingt dafür, weil Furcht und Angst, haben in der Schule nichts zu suchen haben. Das ist ganz grundlegende Pädagogik, würde ich sagen.”
Prof. em. Dr. Jean-Pol Martin (Didaktik, Uni Eichstätt-Ingolstadt)
Ich halte unangekündigte Tests für kontraproduktiv, wenn es um nachhaltiges Lernen und die persönliche Entwicklung geht. Stattdessen befürworte ich Lernumgebungen, die Schüler ermutigen, Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen und ihre individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das passt auch zu meiner Vorstellung, die Gesellschaft von starren Hierarchien zu befreien und Menschen zu befähigen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen.
Frau Prof. em. Dr. Prengel:
Prof. Annedore Prengel lehrte bis 2010 an der Universität Potsdam mit dem Schwerpunkt »soziales Lernen und Integration Behinderter« und ist heute Seniorprofessorin an der Goethe Universität Frankfurt am Main.
„Gute pädagogische Beziehungen beruhen auf wechselseitiger Achtung und Wertschätzung, wie es die Reckahner Reflexionen betonen. Unangekündigte Tests und Abfragen setzen Schüler*innen unnötigem Stress aus und widersprechen diesen Grundsätzen. Nachhaltiges Lernen erfordert konstruktive Rückmeldungen und das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse – nicht Maßnahmen, die Angst und Unsicherheit verstärken.“
https://paedagogische-beziehungen.eu/
Prof. Dr. Astrid Rank
Lehrstuhl für allgemeine Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik
Universität Regensburg
Die Argumentation der Befürworter*innen eines Beibehalts von unangekündigten Leistungsnachweisen scheint nach meinen Erfahrungen in Diskussionen der letzten Wochen vor allem folgende Grundgedanken zu beinhalten:
Unangekündigte Leistungsnachweise würden zum Erhalt von Leistungsbereitschaft beitragen, im Leben müsse man auch unangekündigt Leistungen erbringen und es habe noch niemandem geschadet.
Dazu möchte ich Folgendes sagen:
Ein System, das Angst benötigt, um Leistungen zu erheben oder zu erhalten, ist an sich schon fragwürdig, da es Kindern und Jugendlichen als Persönlichkeiten nicht gerecht wird. Es gibt genügend Befunde, dass Lernen aus Interesse, Motivation und Freude effektiv funktioniert.
Unangekündige Leistungen im Leben sind in der Regel nicht in einer Atmosphäre der Angst zu erbringen, sondern beziehen sich auf Kompetenzen, die man sicher erworben hat. Das kann ich selbst als Professorin, Mutter, Grundschullehrerin, Autofahrerin usw., auf die vielfältige Leistungsanforderungen treffen, bestätigen; aber das weiß ich auch von vielen anderen Berufsgruppen, die unter Druck agieren, etwa Rettungssanitäterinnen oder Polizisten. Keine dieser Anforderungssituationen ist mit einer unangekündigten Ex zu vergleichen oder wird dadurch trainiert.
Und schließlich finde ich das in letzter Zeit oft ins Feld geführte Argument „es habe niemandem geschadet“ zynisch angesichts der Schülerinnen und Schüler, die von der schulischen Situationen in so hohem Maße belastet sind, dass sie psychisch erkranken oder sogar suizidgefährdet sind. Das liegt nicht ursächlich an der Ex, aber in Anspruch zu nehmen, zu wissen, was anderen schadet oder nicht, finde ich anmaßend, sogar menschenverachtend.
Auch dem bayerischen Schulsystem würde es nicht schaden, Druck herauszunehmen, vielleicht würde sich dann auch die Berufszufriedenheit und der Verbleib im Beruf bis zur Rente bei den Lehrkräften erhöhen.
Stefan Ruppaner
Schulleiter a.D., Alemannen Schule Wutöschingen. Gewinner Deutscher Schulpreis 2019
“Lieber Herr Söder,
wenn man den Dialog mit der Schülerschaft verweigert, ist das undemokratisch. Wenn man behauptet, „Seit Jahrzehnten liegt Bayern in allen Rankings mit ganz oben“ ist das gelogen. In Deutschland liegt Bayern hinter Sachsen. „Deutschland verliert Anschluss an die Weltspitze – seit einigen Jahren auch in der Bildungspolitik“. Wer solche Tatsachen nicht sieht, ist ignorant. Einen Satz von ihnen kann ich loben: „Ein Wohlstandsland wie Deutschland kann nur Wohlstand erwirtschaften, wenn es Leistung hat.“ Das Problem ist aber, dass das jetzige Bildungssystem in Deutschland diese Leistung nicht erbringt. Deutschland liegt bei der PISA-Studie auf Platz 22 im Mittelfeld. Viele Länder haben uns bereits abgehängt. Da nützt ein „Weiter so“ nichts. Ich war 19 Jahre Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen. Dort wurden stets weit überdurchschnittliche Leistungen erbracht und das ohne Hierarchie, Abfragen und Exen.
Gegen die Schülerschaft wird ein Wandel im Bildungssystem, in dem wieder Leistung erbracht wird, nicht gelingen.”
Prof. Dr. Markus Schaer
Dipl. Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Studiendekan, Evangelische Hochschule Nürnberg
“Unangemeldete Prüfungen wie Exen und spontane Abfragen schaden der Leistung von Lernenden. Das ist wissenschaftlicher Fakt und umfassend untersucht. Das Gegenteil zu behaupten ist reaktionär und schadet der Zukunft junger Menschen und der Zukunft Bayerns.
Man stelle sich ein bayerisches HighTech Unternehmen vor, bei welchem jeden Morgen einzelne Mitarbeitende zufällig und unangemeldet vor die gesamte Belegschaft gezerrt werden und in aller Öffentlichkeit zu Details des Unternehmens abgefragt werden. Man stelle sich die einzelnen Mitarbeitenden vor, denen vor lauter Aufregung und Bloßstellung vor der gesamten Belegschaft manches nicht einfällt. Man stelle sich vor, das Ergebnis dieser öffentlichen Abfragen würde dann über das Gehalt und gleichzeitig auch über die Karriereoptionen in allen anderen Unternehmen Deutschlands entscheiden. Von einem HighTech Standort würde nur noch ein Lass-mich-in-Ruhe Standort übrig bleiben. Angst statt Innovation. Leistung, ade!
Bei der Diskussion über unangekündigte Prüfungen geht es nicht um Noten oder Notenfreiheit. Es geht auch nicht um Leistungsanspruch oder Faulseindürfen. Es geht um die Entscheidung zwischen Demütigung und Respekt.
Respekt ist der Geburtsort von Hochleistung und Potenzialentfaltung. Eine konstruktive Fehlerkultur ist der Geburtsort für Leistungsexplosion, Innovation und Gründergeist. Das ist wissenschaftlicher Fakt und tägliche unternehmerische Erfahrung.
Es ist an der Zeit, dass wir das an bayerischen Schulen ernst nehmen.”
Prof. Dr. Gabriele Weigand
Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft
Leiterin des BMBF-geförderten Forschungsverbunds „Leistung macht Schule“ (LemaS-Transfer)
Institut für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Meine Kritik würde ich auf zwei Ebenen formulieren.
Zum einen betrifft sie den Eingriff von Politik in die Verantwortungsautonomie von Schulen, zum zweiten auf der inhaltlichen Ebene den Sinn von derartigen Leistungsnachweisen angesichts heterogener Klassen, aber auch angesichts der Herausforderungen von Schulen im 21. Jahrhundert.
Zu 1.
Wenn Politik bis in solche Details von Schulgestaltung eingreift, führt das zum Gegenteil von dem, was Politik tun sollte: Einen klaren Rahmen vorgeben und ansonsten Schulen darin zu stärken und zu unterstützen, dass diese in der Lage sind, ihre Schul- und Unterrichtskultur mit dem Ziel bestmöglicher Bildung für alle Schülerinnen und Schülern zu gestalten.
Zu 2. Hier spielen mindestens zwei Aspekte eine Rolle.
2.1 Eine gerechte Leistungsbeurteilung hat von der Verschiedenheit der Kinder auszugehen. Um Schülerinnen und Schülern in ihrer Lern- und Leistungsheterogenität gerecht zu werden, sind entsprechend differenzierte und individualisierte Lern- und Leistungsformen erforderlich, die primär nicht das Produkt, sondern insbesondere den Prozess des Lernens und Leistens in die Beurteilung einbeziehen. Leistungsbeurteilung muss lern- und entwicklungsgerecht umgesetzt werden.
2.2 Unangekündigte Leistungsnachweise tragen weder zu den zentralen Zukunftskompetenzen wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken bei noch zu dem übergeordneten Ziel von Schule, der Persönlichkeitsbildung von Schülerinnen und Schülern. Im Gegenteil, sie lenken davon ab und verhindern beides. Notwendig ist ein breites Leistungsverständnis, das bei der Förderung der Potenziale und Begabungen aller Kinder und Jugendlichen ansetzt und Performanz in Schulfächern, aber auch im sozial-emotionalen, ethisch-philosophischen und kreativen Bereich ermöglicht. Zu letzterem gehört u.a. auch demokratisch und gemeinwohlorientiert denken und handeln.
Marina Weisband
Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Seit 2014 leitet sie bei politik-digital e.V. das Projekt aula – ein Konzept zur politischen Bildung und liquid-demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen und außerschulischen Organisationen (www.aula.de)
„Schulen dürfen kein politisches Schlachtfeld sein. Wir müssen handeln, wie es dem Lernen am zuträglichsten ist. Das sind unangekündigte Leistungsnachweise erwiesenermaßen nicht. Auswendiggelerntes auf Aufforderung aufsagen können ist das, was Computer besser können als Menschen. Wir müssen von diesem Lernmodell weg, wenn wir Kinder auf Berufe der Zukunft vorbereiten wollen. Seit 30 Jahren wissen Pädagogik und Psychologie, dass unangekündigte Leistungsnachweise nicht wirklich Leistung nachweisen, wohl aber Druck und Stress erzeugen, die dem Lernen abgträglich sind. Prüfungen stehen zwischen Kindern und ihrer natürlichen Neugier auf die Welt.“
Herr Dr. Felix Winter
Dr. Felix Winter ist Erziehungswissenschaftler und Psychologe. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: neue Formen der Leistungsbewertung und Prüfung, Portfolioarbeit, Offener Unterricht, reflexive Lernverfahren und Feedback-Kultur im Klassenzimmer.
„Überraschende Prüfungen können nicht als sonderlich zuverlässig und aussagekräftig gelten, vor allem aber sind sie nicht fair – auch im Sinne der Testfairness. Stattdessen sollten vielfältige Formen der Leistungserbringung in der Schule ermöglicht werden (z. B. Projekte, Referate, Lernplakate, Portfolios u.a.m.). Und die Leistungsbeurteilung sollte entsprechend variabel und proportional zu dem sein, was und auch wie gelernt wird. Besonders förderlich ist es, wenn im Prozess des Lernens über dessen Qualitäten miteinander gesprochen wird und die Schülerinnen und Schüler Rückmeldung erhalten – vor allem dazu, wie sie jetzt weiterlernen können.“
Video zum Thema Leistungsbeurteilungen