Pisa 2019 – Bildungschancen sind weiter vornehmlich vom Elternhaus abhängig.
Ein Beitrag von Herbert Lohmeyer.
Beim neuen Pisa-Test (Pisa 2018) kommen die Kinder in Deutschland beim Länder-Ranking weit nach oben, schneiden besser als der internationale Durchschnitt ab – alles gut? Leider nicht, denn es sind nur Durchschnittswerte.
Wer in der Schule erfolgreich ist und wer nicht, hängt in Bayern, mehr als in den anderen Bundesländern, immer noch ganz wesentlich vom Elternhaus, vom sozioökonomischen Stand ab. Dies bescheinigt die OECD Bayern schon seit vielen Jahren und leider jedes Jahr aufs Neue.
Kinder aus bildungsfernen Familien haben nach wie vor schlechtere Chancen, einen guten Schulabschluss zu machen.
Wenn Eltern ihre Kinder nicht fördern können, gleicht die Schule dieses Defizit nicht aus. Das ist in Deutschland schon lange so, vor allem in Bayern. Was müsste geändert werden, damit alle Kinder wirklich die gleichen Chancen haben? Wie kann die Schule schlechte Startchancen in gute verwandeln?
Wir haben dazu drei konkrete Vorschläge:
- Ungleiches muss ungleich behandelt werden: Je mehr Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern eine Schule besuchen, desto mehr Ressourcen sollte die Schule erhalten, also mehr Lehrkräfte, mehr Sozialpädagog*innen und mehr Schulsozialarbeit.
- Die Schulform entscheidet über den Lebensweg. Deswegen sollten alle Bildungswege möglichst lange offen bleiben, zum Beispiel zwei Schulformen anbieten, die beide zum Abitur führen – neben dem Gymnasium auch Gemeinschaftsschulen. Das machen 15 Bundesländer, nur Bayern aus rein ideologischen Gründen nicht.
- Gute Ganztagsschulen können Kinder mit weniger Ressourcen fördern. Dazu braucht es endlich flächendeckend und in allen Schularten gebundene, rhythmisierte Ganztagsschulen/Ganzutagszüge, nicht nur Kindeeraufbewahrung. In gebundenen Ganztagsschulen/Ganztagszügen stehen bis zu 12 Lehrerstunden pro Woche mehr zur Verfügung – für mehr individuelle Förderung leistungsstarker und leistungsschwächerer Schüler*innen. Und multiprofessionelle Teams müssen Hand in Hand zusammenarbeiten.
Die bayerische Staatsregierung hält die bayerische Bildungspolitik für ach so erfolgreich. Warum vergleichen sie dann Bayern nicht mit den internationalen PISA-Siegern, wie Finnland, Norwegen oder Kanada? Weil diese Staaten ihre Kinder/Schüler*innen nicht nach der 4. Klasse im Alter von 10 Jahren in unterschiedliche Schularten selektieren, sondern sie bis mindestens zur 10 Jahrgangsstufe, als bis 16 Jahren, gemeinsam beschulen und lernen lassen. Bayern selektiert mit einem grundgesetzwidrigen Übertrittsverfahren nach der 4. Klasse und die viel beschworene Durchlässigkeit funktioniert nur nach unten.
Der Glaube von Lehrern an das meritokratische Prinzip verhindert eine fördernde Einstellung. Lehrkräfte orientieren sich bei der Beurteilung von Schülerleistungen all zu häufig an deren sozialem Status. Und alle Versuche, leistungshomogene Gruppen zu bilden, zeigen keine positiven Leistungseffekte, vergrößern aber die soziale Kluft.
Wir bestehen den internationalen Vergleich erst, wenn wir den OECD-Forderungen, den Forderungen der Wirtschaft und den Forderungen aller relevanten Bildungs- und Wirtschaftswissenschaftler*innen gerecht werden und auch in Bayern endlich längeres gemeinsames Lernen in Form von Gemeinschaftsschulen, die bis zum Abitur führen, flächendeckend ermöglichen.
Herbert Lohmeyer ist im Vorstand von Eine Schule für Bayern e.V. und im GGG Bundesvorstand(Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule,
Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.). Im niederbayerischen Landkreis Landshut hat Herbert Lohmeyer, als Vorsitzender der IGG (Interessengemeinschaft Gemeinschaftsschule) sich in seinen Heimatgemeinden dafür eingesetzt, dass zwei Standortgutachten und ein Konzept für eine Gemeinschaftsschule erstellt wurden. Die beteiligten Gemeinderäte haben sich mit großer Mehrheit auf seine Seite gestellt. Leider wurden die Konzepte vom Kultusministerium bisher immer abgelehnt. Mehr darüber lesen.
Nachtrag
Wir fordern die Einführung von Gemeinschaftsschulen auch in Bayern.
Weitere Forderungen und was uns Pisa bisher eingebrockt hat, lest Ihr hier.
Die erste PISA-Studie löste in Deutschland einen Schock aus. Das war im Jahr 2000. Wie sich herausstellte, waren die deutschen Schulen im internationalen Leistungsvergleich doch nicht so gut, wie man es jahrzehntelang gedacht hatte. Man lag im unteren Mittelfeld und jetzt nach knapp 20 Jahren ist man gerade mal im oberen Mittelfeld angekommen. Für deutsche SchülerInnen ergaben sich aus dem Pisa-Schock in erster Linie mehr Tests, mehr Noten. Und für Gymnasiasten zwischenzeitlich ab 2011 das G8, das seit 2018/19 in Bayern wieder abgeschafft worden ist.
„Unsere Bildungspolitiker ordnen das Gegenteil von dem an, was Kindern hilft“, schreibt der Erziehungswissenschaftler Kurt Singer. Klar ist: Alles, was wir seit dem PISA-Schock erfahren, sind viele widersinnige Reformen und widersprüchliches Stückwerk. Die meisten Bildungspolitiker – und die bayerischen allemal – ignorieren die Erkenntnisse der aktuellen Hirnforschung, und sie ignorieren die praktizierte Reformpädagogik erfolgreicher alternativer Schulen. Dabei zeigt ein Blick auf diese Schulen, was das zentrale Thema in der Bildungsdiskussion sein müsste: die Art und Weise, wie in deutschen Schulen gelernt wird. Alle anderen notwendigen Veränderungen wären dann nur noch logische, natürliche Folgeschritte.
Die Beweise sind längst erbracht. Man braucht nicht mehr in skandinavische Länder zu blicken, um zu begreifen, dass wir eine völlig andere Art des Lernens, eine grundlegende Reform der Pädagogik brauchen. Es gibt mittlerweile auch – leider viel zu wenige – innovative deutsche Schulen, die Neuland betreten haben und deren Schüler überdurchschnittliche Leistungen erreichen.
In den meisten staatlichen Schulen gibt es traditionellen Unterricht. Der Lehrer unterrichtet die Schüler. Die Initiative geht vom Lehrer aus, er hat die Fäden (des Lehrplans) in der Hand. Die Schüler hören zu, nehmen auf, sammeln Wissen – für die nächste Prüfung, schreiben den Test und vergessen das Auswendiggelernte. Lernbulimie nennen das manche. Es ist ein passiver Kopiervorgang. Das Wissen zerfällt in isolierte, häufig unverstandene und bald wieder vergessene Teile. Die Hirnforschung hat diese Art des Lernens, das ‚Eintrichtern‘ und Pauken als völlig ineffizient abgeschrieben. Sie hat aufgezeigt, dass Lernen ein aktiver, ganz individueller Prozess ist, der in jedem Kopf jedes Menschen anders stattfindet.
Kinder und Jugendliche müssen selbst lernen, anstatt vom Lehrer unterrichtet zu werden. Der Lernprozess muss selbstgesteuert ablaufen, die Initiative vom Schüler ausgehen. Anstatt Berieselung durch Frontalunterricht im 45-Minutentakt, gibt es freie Stillarbeit, offenen Unterricht, Vertiefen in Projektarbeit. Das Klassenzimmer wird umgebaut zur Lernwerkstatt, zum Lernstudio. Der Lehrer wird vom Vortragenden zum Lernbegleiter. Er schafft das geeignete Umfeld, stellt die jeweils nötigen Materialien zur Verfügung und hilft.
Der Schüler wird vom passiven Zuhörer zum aktiv Lernenden – Beispiel Geografie/Europa: Die Länder werden nicht ‚durchgenommen‘, sondern von Schülern erarbeitet. Sie recherchieren, vertiefen sich in Themen, schließlich präsentieren sie die Ergebnisse vor ihren Mitschülern, exponieren sich.
Die Schüler entscheiden selbst, was sie machen und wie sie es machen. Denn Lernen ist ein individueller, diskontinuierlicher Vorgang. Auf Phasen der Verlangsamung folgen unerwartete Beschleunigung und manchmal sogar Sprünge. Gleichschritt in der Kolonne – auf die nächste Klassenarbeit hin, in der alle das Gleiche können sollen – ist fürs Lernen völlig ungeeignet.
Die Schüler erstellen Wochenpläne oder führen Pensenbücher. Regelmäßig prüfen sie selbst, wie weit sie sind, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Das aus Regelschulen bekannte Schummeln entfällt. Und das Schöne: Schüler solcher Reformschulen sind ‚Streber‘, sie wollen lernen. Lernen für sich selbst, lernen um der Sache willen – nicht für den Lehrer und auch nicht für die Prüfung oder die Note.
Gegen die Paukschule spricht außerdem, dass unsere Kinder in Zukunft eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen haben werden wie z.B. die Digitalisierung, die erstmal unglaublich viele Arbeitsplätze schlucken wird, den Klimawandel und eine immer bunter bzw. heterogener werdende Gesellschaft. Reines Faktenwissen wird da nicht wirklich weiterhelfen. Kinder, die heute eingeschult werden, gehen im Jahr 2080 in Rente. Es wird in 20, 30 Jahren Berufe geben, die wir heute noch gar nicht kennen. Deshalb müssen wir die Erwachsenen von Morgen dazu befähigen, sich dieser Themen anzunehmen. In der Arbeitswelt ist Lernfähigkeit gefragt und ganz markant werden Kompetenzen/Softskills wie Kreativität, Flexibilität, Teamfähigkeit, Empathie, Problemlösungs- und Kommunikationsfähigkeiten an Bedeutung gewinnen.
Schulen müssen projektorientiert unterrichten, die Interessen und Stärken der einzelnen Schüler in den Mittelpunkt stellen und die Schulen für Praktika öffnen.
In Finnland werden bis 2020 die klassischen Fächer abgeschafft. Projektkurse und praktische Einblicke sollen an die Stelle des bisher theorielastigen Fächerlernens treten, um praxisbezogene Kompetenzen zu vermitteln. Somit werden Studierende künftig nicht mehr einzelne Fächer wie Geschichte, Mathematik oder Geografie durchkauen, sondern ein übergreifendes Modell anwenden, welches Ereignisse wie beispielsweise den Zweiten Weltkrieg ganzheitlich und aus allen relevanten Perspektiven, wie beispielsweise aus mathematischer, historischer oder geografischer Sicht sozusagen „fächerübergreifend“ beleuchten.
Die Weichen in der heutigen bayrischen Bildungslandschaft, das darf man hier durchaus anmerken, stehen immer noch genau in gegenteiliger Richtung. Heute ist noch immer Standardisierung und theorielastiges Fächerlernen angesagt. Rein nach dem puren Leistungsprinzip wird selektiert, verglichen und geprüft.