Pädagogische Mythen:
Eine Kampfschrift
Einige scheinbar wissenschaftliche begründete und entwicklungspsychologische Mythen, mit denen seit einigen Jahrzehnten das Bildungssystem und die Bildungspolitik gestützt und gerechtfertigt wird, von der Bildungspolitik selbst, fast allen politischen Parteien und auch leider unhinterfragt von vielen Lehrern. Diese Mythen, scheinbar im Interesse und zum Wohl der Kinder-,von Chancengleichheit, frühkindliche Bildung, Förderung bis zur Medienerziehung, verschleiern die Wirklichkeit zugunsten scheinbar liberaler, sozialer, fortschrittlicher und konsensfähiger Ziele. Auch die Therapeutisierung der schulischen und vorschulischen Bildung wird hier kritisch angesprochen. Gleichzeitig wird die Verantwortlichkeit hin zu den Eltern, Familien und Kindern verschoben, das System selbst bleibt geschützt vor jeder Kritik.
Ein Beitrag von Ulrike Fai.
Chancengleichheit
Fangen wir mit dem Mythos der Chancengleichheit an. In 60er und 70er Jahren mit der Gründung der Gesamtschulen einhergehend, wurde der Mythos des Abbaus der sozialen Ungleichheit durch Bildung „erfunden“. Sehr leicht kann man das sozialdemokratische Erbe der Arbeiterbewegung erkennen, die den Aufstieg für Einzelne für ein geeignetes Mittel des Kampfes für soziale Gerechtigkeit hielt. In Zeiten des Wirtschaftswunders und der Nachkriegszeit wurde das auch für viele Kinder aus der Arbeiterschicht möglich. Dahinter stand aber immer und das wurde auch offen ausgesprochen, die Ausschöpfung von „ Begabungsreserven“ von wenigen. Die wirtschaftliche Entwicklung und die dritte technologische Revolution brauchten mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte.
Inzwischen ist der Ruf nach Chancengleichheit zu einer Worthülse verkommen. Es ist die Möhre, die man dem Eselsprekariat- das Wort Proletariat wird von niemandem mehr in den Mund genommen-, vor die Nase hält an der Angel, um sie zu beschwichtigen und bei der Stange zu halten, um die Hoffnung zu nähren, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden, wenn sie nur fleißig in der Schule lernen.
Förderung und Frühkindliche Bildung
Ein weiterer Mythos der heutigen Pädagogik lautet, man müsse Kinder „fördern“, unter anderem um die Defizite der familiären Sozialisation auszugleichen. Leitbild ist dabei die gebildete, am besten akademische Mittelschicht, die den Kindern Wissen, Kultur und Erziehung angedeihen lässt, die in den unteren Schichten zu wünschen übrig lasse. Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass man auch vor allem auch Kinder mit Migrationshintergrund im Auge hat, die auf diese Weise das kulturelle Leitbild Deutschlands vermittelt bekommen sollen. Aushängeschild ist dabei die Sprachförderung, die natürlich so wie die Schule strukturiert ist, die die Beherrschung der deutschen Sprache zur Grundlage jedes weiteren Bildungs und Schulschrittes voraussetzt.
Aber auch andere Arten von Förderung hat man im Auge. So sollen Mädchen, die 6 Jahre lang von der Exploration ihrer Umwelt abgehalten werden und auf kochen, backen, waschen und ihre Rolle im Haus vorbereitet werden, auf einmal für Naturwissenschaften interessiert werden und technische Berufe ergreifen. Nach 6 Jahren rosaroter Barbiewelt wird erwartet, dass sie sich nun für dieselben Dinge interessieren sollen wie die Jungen. Ohne auf die Unterschiede in der Entwicklung von Mädchen und Jungen hier einzugehen, ich verweise auf Vera Birkenbihl u.a., kann das nicht funktionieren.
Spiel und Explorationsräume für Kinder werden immer kleiner, das institutionalisierte Lernprogramm, das am besten schon von Geburt an dokumentiert wird, tritt an die Stelle. Genau das steckt hinter dem Konzept der frühkindlichen Bildung, das jeden Entwicklungsschritt der Kinder unter institutionalisierte Kontrolle bringen will. Ohne jemals sein eigenes System und seine Ziele zu hinterfragen, werden wiederum eine Gruppe von Eltern an den Pranger gestellt, die schon Dreijährige zum Chinesischkurs fahren, die ist sicherlich gibt und die lediglich die gleichen Ziele und Prinzipien vertritt wie das Bildungssystem und unser Wirtschaftssystem, nur dass sie individuell für ihr Kinder Vorteile wollen und sie für den Leistungswettkampf optimieren soll. Förderung, die zynischerweise diese Kinder in der Regel gar nicht brauchen.
Bewertung und pädagogische Interpretation Intervention durch außerfamiliäre Instanzen werden zur Regel. Die persönliche Akte wird vom Kleinkindalter geführt und jeder Abweichung vom vorgegebenen Leistungsideal als Abweichung, Störung, Krankheit oder Pathologie registriert. Notfalls wird mit psychogenen Medikamenten nachgeholfen.
Förderung von Kindern kann doch nur heißen, beim Stolpern und Hinfallen der eigenen Entwicklung tröstend und ermutigend da zu sein, Unterstützen und Hilfe zu geben da, wo sie gewünscht, erfragt oder gesehen wird, nicht die gesamte Landkarte vorzugeben und das Kind hineinzupressen.
Sozial emotionale Förderung, sozial emotionaler Rückstand
Verhaltensauffälligkeit
Verhaltensstörung
Diagnose von seelischen Behinderungen, ZB ADHS, ADS, Legasthenie (!) usw. durch Förderschullehrer, Lehrer und andere pädagogische „Fachkräfte“
Eine der verhängnisvollsten Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die mit Sicherheit der fehlenden Weiterentwicklung des maroden Schulsystems und der Überforderung der Schulen/Lehrerschaft geschuldet ist, ist der Einzug von medizinischen, psychologischen und psychotherapeutischen Diagnosen in den Schulbetrieb , zum Teil schon in den Kindergartenbetrieb.
Das beste Beispiel dafür sind die Gutachten im Grundschulalter, die sozial emotionale Rückstände diagnostizieren, schon Sechsjährigen bescheinigen, dass sie therapiebedürftig sind, oder doch zu mindestens intensivster pädagogischer Betreuung und Förderung bedürfen. Dabei arbeiten mit Kinderärzte, Kinderpsychiatrie, Jugendämter, Sozialpädagogen, niedergelassene Kindertherapeuten usw. Die Pathologisierung großer Mengen von Kindern wird von Sonderpädagogen festgestellt, die 6 Semester Sonderpädagogik studiert haben und vom Schulsystem dafür instrumentalisiert werden. Unter dem Deckmantel der Inklusion werden quasi im Vorübergehen ADHS, ADS, Verhaltensstörungen usw. festgestellt. Die Kinder werden ausgesondert, an andere Instanzen delegiert, therapiert und diskriminiert, also das Gegenteil von Inklusion. Wenn Kinder, die sich aus verschiedensten Gründen nicht an das Schulsystem und seine Forderung anpassen, sind sie automatisch krank, nicht integrierbar, nicht „beschulbar“, behandlungsbedürftig. Auch der Umgang mit der „Schulabsenz“, also die Schulverweigerung gehört hierhin, sowie die Kriminalisierung und Bestrafung von Familien, die ihren Kindern selbstbestimmtes Lernen außerhalb der Schulpflicht ermöglichen. Angedeutet hatte sich das bereits in den 90er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, als von der Pädagogik die zunehmende Zahl von Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen festgestellt wurde. Eine tiefere Analyse der Ursachen fand aber durch Pädagogik oder Bildungssystem bis heute nicht statt.
Kompensation von Armut
Schutz vor häuslicher Gewalt
Ein beliebter Mythos von Schule und Lehrern ist, in der Pandemie nochmal betont, das ist die Schule Kinder vor häuslicher Gewalt schützt beziehungsweise diese aufdeckt und interveniert (!). Abgesehen davon, dass die schulische Gewalt durch bundesweit verbreitetes Mobbing durch Gewalt in der Schule, durch Mitschüler und auch Lehrer völlig ausgeblendet und geleugnet wird, wäre zu fragen, wie viel Meldungen von Gewalt, Verwahrlosung und Kindesmissbrauch in den letzten Jahren durch Akteure der Schule aufgedeckt wurde. Auch wirksame Maßnahmen gegen Armut bei Kindern gehen selten vom Schulsystem aus. Wo gibt es kostenlose Schulverpflegung, wo kostenlose, flächendeckende, qualitative Ganztagsbetreuung für alle, die das wollen (nicht nur Aufbewahrung), wo und wann wenden sich Lehrerverbände aktiv gegen Kinderarmut?
Es sind hauptsächlich die Wohlfahrtsverbände, die nicht müde werden auf die Folgen von Kinderarmut hinzuweisen. Damit bin ich beim Thema Kinderarmut. Beliebt ist das große Beklagen auch auf Lehrerforen, der armen Kinder, die ohne Butterbrot, Frühstück und mit immer denselben Klamotten zur Schule geschickt werden, während ihre Eltern am Großbildbildschirm rauchend und trinkend den Tag verbringen. Lehrer und Lehrerinnen (LUL), sonnen sich in der ohnmächtigen und klagenden Selbstbeweihräucherung und schmelzen vor Mitleid dahin. Ohne einmal nach den Ursachen zu fragen, beklagen sie, dass diese Eltern nicht zum Elternsprechtag noch zum Elternabend kommen und sich um die schulische Karriere ihrer Kinder keinerlei Sorgen machen.
Dass diese Eltern resigniert haben und das Märchen von dem Aufstieg durch Schule nicht mehr glauben und auch in ihrem eigenen Leben längst resigniert haben, wird moralisch verurteilt, aus einer Position relativer sozialer Sicherheit, vieler Privilegien und Ressourcen und gesichertem Arbeitsplatz und sicherer Altersversorgung.
Auch hier hört man immer wieder depressive Hilflosigkeit heraus, gepaart mit Sendungsbewusstsein auf der individuellen Ebene. Das ist keine Empathie, sondern Gefühlsduselei. Dazu kommt ein inzwischen verfestigtes Selbstbild des Märtyrertums, dass man ja trotz dieser immer schwerer werdenden Rahmenbedingungen des Lehrerberufes alles für die Kinder tut, was man kann und es trotzdem nichts hilft.
Im Jahr 2018 prüften die Jugendämter laut Statistischem Bundesamt 157.271 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung. In rund einem Drittel, bei 50.412 Fällen, wurde eine Kindeswohlgefährdung bestätigt.
In der polizeilichen Kriminalstatistik werden für das Jahr 2019 13.670 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angegeben.
Selbst wenn man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht und diese Zahl verfünffacht, kommt man bei 13,75 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 auf einen Prozentsatz von 1,8%, natürlich viel zu viele.
Zum 31. Dezember 2020 gab es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland insgesamt 13,75 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren)
Damit werden 98,2% der Kinder und Jugendliche, von denen eine riesige Zahl unter der Schule leidet, einfach ausgeblendet. Die Familie wird in Bausch und Bogen zum Sündenbock für nicht wahrgenommene eigene Defizite.
Seelische Gewalt durch Anschreien, Demütigen, andauerndes Reglementieren, Zwang und Fremdbestimmung werden weder in der Familie noch in der Schule systematisch erfasst.
Klassengemeinschaft
Schon in meiner eigenen Schulzeit, die mittlerweile 60 Jahre her ist seit meiner Einschulung, habe ich das Beschwören der Klassengemeinschaft immer als hohle Phrase empfunden. Mich erinnert der Begriff an die Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus, die alle Unterschiede und Probleme sowie Konflikte negiert. Es gab früher eine Solidarität der Klassengemeinschaft gegen bösartige oder schlechte Lehrer. Aber wie soll eine zwangsweise hergestellte Gruppe von 20 oder 30 Kindern sich als Gemeinschaft erleben, wenn die Grundmelodie Konkurrenz und Bessersein bedeutet, Ausgrenzung von Schwächeren, Kampf um Noten und Abschlüsse. Die großen sozialen Unterschiede, die sich natürlich auch in den Klassen widerspiegeln, wie ich bereits vor 50 Jahren im Gymnasium erleben durfte, lass ich hier mal außen vor, das wäre Stoff für Bücher. Kinder haben eine sehr genaue Antenne auch für diesen Aspekt der Schule, sie wissen genau wo sie stehen in der sozialen Hierarchie. Homogenität wird bestenfalls durch das Wohnen im sozialen Brennpunkt oder in einem Speckgürtel erreicht. Und auch dort wird jeder, der nicht in das jeweilige Spektrum passt, markiert und schlimmer ausgegrenzt.
Integration in die Klassengemeinschaft
Ein beliebter pädagogischer Begriff ist auch beim Gespräch mit Eltern und der Beurteilung des Kindes die Integration in die Klassengemeinschaft. Dabei wird bewertet, ob das Kind Freunde in der Klasse hat Kontakte und sich störungsfrei in das Unterrichtsgeschehen integrieren lässt, also angepasst ist. Weder gibt es Kriterien für die Qualität dieser Klassengemeinschaft noch für nachvollziehbare Kriterien für den Grad der Integration des Kindes.
Mediennutzung und Medienerziehung
Mediennutzung- ein weites Feld würde Herr von Briest sagen…. Ich kann mich erinnern, dass in meiner Kindheit die Fremdheit einer intellektuellen pädagogischen Schicht gegen jede Art neuer Medien ihren Anfang nahm. Zuerst waren es die Comics, die die Kinder verderben würden, dann das Fernsehen als großer Buhmann und dann kamen Computer und Internet. Ohne hier irgendwelche Gefahren der digitalen Welt zu verharmlosen, halte ich die andauernde Distanz bis Ablehnung der Schule und vieler Lehrer, sich die neuen Medien anzueignen für die größte Gefahr. Sie lassen die Kinder und Jugendlichen allein, diese haben sie längst überholt, und lange nicht alle Kinder und Jugendlichen nutzen die Medien für Gewaltspiele oder süchtiges Fliehen vor der Wirklichkeit (und wenn doch, wer könnte es ihnen verübeln? Leben Erwachsenen ihnen nicht genau das vor?). Wenn sie den Kindern wirklich zuhören würden und sich auf deren digitale Welten einlassen würden, könnten sie wesentlich glaubwürdiger und kompetenter diese Generation begleiten und auf die Gefahren aufmerksam machen. So stehen sie größtenteils hilflos Cybermobbing, Anbahnung von sexuellem Missbrauch oder anderen kriminellen Auswüchsen des Internets gegenüber. Auch hier wieder immer wieder: depressives Beklagen der Suchtgefahren, Beschwören der Elternzuständigkeit und kulturpessimistische Untergangsszenarien.
Auf der einen Seite gibt die Schule Eltern strikt vor, wie sie Ihre Kinder erziehen sollen damit sie schulgängig sind, aber wenn Dinge nicht so laufen, wie das in der idealen Pädagogenwelt sich vorgestellt wird, wird die familiäre Erziehung verantwortlich gemacht. Die Konzen-tration auf die eigene Verantwortung täte not.
Längst ist die Kluft zwischen Kindern und vor allem Jugendlichen und ihrer Welt und der der Lehrer unendlich riesengroß, daran wird auch die Ausgabe von Tablets und das Verlegen von WLAN in den Schulen nichts ändern. Das Digitalisieren von Arbeitsblättern und die Vermittlung von Anweisung per Videokonferenz werden es nicht richten, und man verschenkt die großen Möglichkeiten, die auch im digitalen Lernen liegen. Selbst die öffentlich-rechtlichen Medien haben diese Möglichkeiten längst erkannt und bieten Informationen in multimedialer Form an, die diese Generation ansprechen.
Kinder und Jugendliche beziehen einen Großteil ihrer Informationen über youtube und andere Kanäle, recherchieren im Internet, wenn Sie etwas wissen wollen oder lernen wollen, spielen komplexe Weltsimulations und Aufbauspiele, die Fähigkeiten modellierender Art in komplexen Systemen wie Wirtschaft, Biologie, Physik, Chemie, Soziologie usw herausbilden. Dort können Sie selbst wählen und müssen nicht wiederkäuen, was seit Jahrhunderten als festgelegter Lehrplan vorgegeben wird, sie sind Schöpfer und Veränderer ihrer Welt.
Kommunikation ist natürlich auch auf digitale Kanäle verlagert. Die Kids gehen selbstverständlich mit dieser Art der Kommunikation um. Natürlich gibt es auch Missbrauch, aber sich davon fernzuhalten und diese zu verteufeln, wenn man selbst diese Medien nicht ansatzweise beherrscht, wie sich in der Pandemie deutlich gezeigt hat, verschenkt die Chancen der Digitalisierung.
Ulrike Fai
Geb. 1955 in Bochum, 1973 Abitur in Münster , 1973-1980 Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften an der WWU Münster.
Abschluss mit 1. Staatsexamen, Referendariat in Münster und Essen/Mülheim,
2.Staatsexamen; 1979-2011.
Tätigkeiten in der Erwachsenbildung, (VHS u.a), Aufbau und Leitung eines Multimediaprojekts an der VHS Duisburg (E-Learning und E-Working) 1993-1996, Leiterin des Fachbereichs EDV in Duisburg nach IT-Umschulung 1996-2010,
berufsbegleitende Weiterbildung zu Diplom-Kunsttherapeutin in Bochum;
Tätigkeit als Kunsttherapeutin vorwiegend mit Kindern 2010 bis zur meinem Renteneintritt 2020;
seitdem reisend, 3 Kinder, geb. 1979, 1982, 1986