Machtlos im Klassenzimmer: Zwischen Rebellion und Resignation in der Lateinstunde
Ein ehrlicher Bericht einer Schülerin aus Bayern:
Es ist Freitag, die erste Stunde, kurz vor den Sommerferien. Es ist der letzte Tag vor Notenschluss und fast alle meiner Mitschüler*innen wählen Latein ab. Während ich diesen Text schreibe, sitze ich um 8.30 Uhr im Lateinunterricht und bin wütend. Deshalb schreibe ich diese Worte, um zu zeigen, wie es ist, in Bayern zur Schule zu gehen.
Unser Lateinlehrer, nennen wir ihn Herr Müller, geht durch die Reihen und schaut immer wieder über mein Tablet. Zumindest kommt es mir so vor. Immer wieder schließe ich die App, in der ich diesen Text schreibe und höre auf zu tippen. Es ist einer dieser Tage, an denen mir klar wird, wie sehr ich in einem autoritären Schulsystem gefangen bin. Ich fühle mich machtlos und ausgeliefert.
Heute Morgen ist etwas passiert, das mich besonders wütend macht: Unsere Hausaufgabe war, Vokabeln zu wiederholen und einen Text zu übersetzen. Da ich in der letzten Stunde abgefragt wurde, konnte ich diese Stunde nicht nochmal drangenommen werden. Trotzdem habe ich die Übersetzung gemacht – aus Angst, plötzlich aufgerufen zu werden und nichts sagen zu können.
Herr Müller rief einige Schüler*innen auf, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten, und war sichtlich verärgert. Als er fragte, wer die Hausaufgaben gemacht hatte, meldeten sich nur zwei. Er ist der einzige Lehrer, den ich kenne, der noch Striche verteilt, wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht hat. Herr Müller drohte sogar mit Nachsitzen beim zweiten Strich und warnte uns, dass es in der 12. Klasse noch schlimmer werden würde, wenn wir „so weitermachen“. Für ihn war es klar: Wir haben die Hausaufgaben nicht gemacht, weil wir einfach faul waren – und das muss bestraft werden.
Seine Reaktion wirkte verzweifelt und zeigt deutlich seinen Autoritätsverlust. Er schien nicht zu verstehen, dass wir kurz vor den Sommerferien stehen und die meisten von uns denken, dass sie Latein nie wieder in ihrem Leben brauchen werden.
Das System stößt an seine Grenzen, wenn man kurz vor Notenschluss steht und die Lehrkraft nicht mehr mit schlechten Noten drohen kann. Herr Müller betonte, dass er trotzdem Wege finden würde, uns schlechte Noten zu geben, wenn wir nicht mitmachen.
Er hat ein völlig anderes Verständnis von Schule und Bildung als ich. Nach meiner Einschätzung glaubt er, man müsse die Schüler*innen zum Lernen zwingen. Er steht vorne, gibt vorgefertigte Fakten vor, die wir auswendig lernen müssen. Kein Wunder, dass das den meisten keinen Spaß macht und sie keinen Sinn darin sehen, Vokabeln und Grammatik für eine tote Sprache zu lernen. Statt uns die Vorteile des Lateinlernens zu zeigen, wird auf Strafen und Druck gesetzt.
Schüler*innen lassen sich schwer zu Bildung zwingen, zumindest nicht zu der, wie ich sie verstehe. Bildung sollte Herzensbildung sein und freiwillig geschehen. Unsere Lateinstunde besteht daraus, dass zuerst jemand vor der Klasse abgefragt wird, was oft ein Gefühl der Bloßstellung und Demütigung auslösen kann. Danach korrigieren wir die Hausaufgaben, einen Text den wir übersetzen sollten. Wenn die Unterrichtsstunde dann noch nicht vorbei ist, übersetzen wir den Text weiter. Mich überrascht es nicht, dass viele Schüler*innen keine Freude an Latein haben, wenn man größtenteils nur langweiligen Frontalunterricht hat und, wie es bei vielen der Fall ist, sowieso schon demotiviert ist, weil man auf einer schlechten Note in Latein steht und denkt, dass man sowieso nichts kann.
Um Schüler*innen zu motivieren und ihnen Freude am Lernen zu vermitteln, wäre ein Umdenken erforderlich. Dazu müsste sich aber das Schulsystem grundlegend ändern. Das kann ein einzelner Lateinlehrer natürlich nicht leisten. Aber Herr Müller könnte zumindest im Rahmen seiner Möglichkeiten selbstbestimmtes Lernen, kollaboratives Arbeiten, etc. fördern.
Nach seiner Ermahnung ist Herr Müller plötzlich betont freundlich, hilfsbereit und lacht sogar ab und zu. Hat er ein schlechtes Gewissen? Vermutlich hat er gelernt, dass „konsequente Lehrkräfte Fehlverhalten der Schüler*innen sanktionieren müssen“. Doch spürt er selbst, dass das nicht in Ordnung war? Oder ist das nur meine Hoffnung?
Ich glaube, Herr Müller will nur das Beste für uns. Aber seine Auffassung davon unterscheidet sich komplett von meiner. Vielleicht denkt er, er könne mit seinem Job ein Vorbild für uns sein und eines Tages werden wir ihm danken. Für mich ist das Gegenteil der Fall. Ich brauche keine Person, die mir Vorträge hält und mir mit Strafen droht, wenn ich nicht mache, was mir befohlen wird. Ja, ich will lernen, aber so ein System und solche Personen bremsen mich. Meine Zeit und Energie gehen für Schulaufgaben und Abfragen verloren.
Das Schulsystem bietet wenig Spielraum für Lehrkräfte, damit wir Schüler*innen wirklich selbstbestimmt Lernen können. Normalerweise sind alle Schüler*innen von Natur aus neugierig und wissbegierig. Aber das wird zerstört, wenn man nur für Noten auswendig lernen muss und irgendwann denkt, dass der einzige Grund irgendetwas zu lernen Noten sind.
Das ist für mich keine Bildung. Aber viele glauben so sehr an das System, dass sie denken, alles wird besser, wenn sie sich noch mehr daran klammern.
Ich frage mich, wie können wir solche Lehrkräfte, wie Herrn Müller, auf dem Weg mitnehmen, Schulen zu Orten der Menschlichkeit, Demokratie und nachhaltigen Entwicklung zu transformieren? Wir können nicht noch weitere Jahrzehnte versuchen ein falsches System mit Mikroreformen zu optimieren. Ich möchte nicht, dass auch nur eine Generation durch das gleiche Schulsystem gehen muss, wie ich es jeden Tag erlebe. Wir brauchen dringend eine Bildungswende. Jetzt.
Warum kenne ich nur so wenige Schüler*innen, die sich aktiv an einer Bildungsrevolution beteiligen? In der Lateinstunde habe ich wieder einmal gesehen, wie die Realität aussieht. Warum habe ich Herrn Müller nicht gesagt, was ich von seinem Vortrag halte? Ich fühle mich machtlos. Viele meiner Mitschüler*innen fanden das Verhalten von Herrn Müller nicht richtig, aber sie sagen, dass sie nichts dagegen tun können. Es ist einfacher, sich damit abzufinden.
Warum haben wir uns daran gewöhnt? Warum ist es einfacher, stillschweigend mitzumachen und nicht in Konflikt zu gehen? Wir Schüler*innen fühlen uns ungerecht behandelt, aber meine Mitschüler*innen sagen, es ist ihnen egal ist, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt als sich damit abzufinden.
Das Schulsystem ist wie eine Mauer. Ich versuche, sie zum Einsturz zu bringen, aber allein kann ich nur Sandkörner herauskratzen. Wenn wir uns alle zusammenschließen würden, würde die Mauer nicht mehr halten.
Um wirklich etwas zu ändern, kommt es auf uns alle an. Stürzen wir die Mauer zusammen ein!
9.31 Uhr. Wir sind noch nicht fertig mit der Welt, sagt Herr Müller. In der nächsten Stunde wird er kontrollieren, ob alle ihre Hausaufgaben gemacht haben. Der Lateinlehrer hat gewonnen. Nächste Stunde haben wohl alle ihre Hausaufgaben, auch wenn sie die Übersetzung kurz vorher aus dem Internet abgeschrieben haben.