Lernen ist Performance! Zur Bedeutung der Performativen Didaktik für eine zeitgemäße Lernkultur
Abstract
Eine zeitgemäße Lernkultur erfordert performatives Arbeiten, verlangt nach einer Lehr- und Lernmethode, mit der improvisiert und experimentiert werden darf und die in vielen Fächern und unterschiedlichen Lehr- und Lernkontexten anwendbar ist.
Ohne den Einsatz unserer Sinne und die Öffnung von Körper und Leib durch Performance ist Lernen nicht möglich. Performance verrückt Wahrnehmungsgewohnheiten und knüpft erst an der eigenen Lebenswirklichkeit und den persönlichen Erfahrungen an, um sie anschließend im kreativ-spielerischen Prozess zu erweitern. Performance erfordert, das Situative, im Augenblick Entstehende zu begrüßen, um damit zu arbeiten und bedeutet einen Abschied von standardisierten Antworten und Wissensreproduktion. Performance ist das Spiel zwischen Improvisation und Konzept, zwischen Regel und Regelüberschreitung, beinhaltet Irritation, um gestalterisch-performative Bildungsprozesse anzuregen. Performance erprobt ein mögliches Crossover zu Leben, Alltag und zu anderen Fachgebieten, zerschlägt im Handeln und im Beobachten, im Sehen und im Hören, im Fühlen und im Denken, eigentlich im QUER durch alles, alte Sinngrenzen, um neue Sinnlichkeits- und Sinnhorizonte entfalten zu können. Und genau das bedeutet Lernen.
„Performance entwickelt Aufmerksamkeit für das Sich-Ereignende.“ (Lange 2006:106)
Das Schreiben eines Fachartikels ist eine Performance. Prozesskunst sozusagen. Für diesen Prozess schaffe ich mir einen Explorationsraum, in dem ich nach meinem Tempo arbeiten kann, niemand mir reinredet oder sagt, wie ich es besser machen soll. Vielfältiges Material umgibt mich und ich beginne zunächst zu recherchieren, dann das Recherchierte zu lesen. Ich notiere, skizziere, sammle, denke, bedenke, verwerfe, lasse entstehen. Dabei arbeite ich mit meinen Händen, indem ich Buchseiten umblättere und mit meinem Textmarker Linien ziehe, ich nutze meine Augen, um Texte zu entziffern, meine Ohren hören dabei für mich anregende Musik, der Tee vor mir duftet und die Schokolade schmeckt etwas zu süß und hinterlässt Spuren auf meinem Notizbuch. Ein sinnliches Zusammenspiel. Mein Herz schlägt schneller, Spannung baut sich auf, denn ich genieße es, wie sich aus dem scheinbar unzusammenhängenden Gewirr von Worten, Sätzen, Zitaten langsam etwas zu formen beginnt. Ich imaginiere und denke, ordne meine eigenen Erfahrungen in den Kontext meines Schreibens mit ein und erlebe mich als selbstwirksam. Während ich diesen Prozess durchlaufe, wird das später Präsentierte im Augenblick des Geschehens durchlebt. Der kreative Schreibprozess wird irgendwann zum Werk selbst. Zu einer neuen Erfahrung, zu etwas Neuem, was ich geschaffen und wodurch ich gelernt habe. Und genau hier verbinden sich Performance und Lernen auf wunderbare Weise miteinander.
Erster Teil: Theoretische Denk-Räume
„Nach allgemeiner Ansicht besteht ein sehr starker Unterschied zwischen lernen und sich amüsieren. Das erstere mag nützlich sein, aber nur das letztere ist angenehm. (…) Nun, wir können eigentlich nur sagen, dass der Gegensatz zwischen lernen und sich amüsieren kein naturnotwendiger zu sein braucht, keiner, der immer bestanden hat und immer bestehen muß. (…) Gäbe es nicht solch amüsantes Lernen, dann wäre das Theater seiner ganzen Struktur nach nicht imstande zu lehren.“ (Brecht 1957:65 ff.)
Im ersten Teil möchte ich zunächst die historische Entwicklung performativer Lernprozesse und ihre zunehmende Bedeutung in aktuellen pädagogischen Fachdiskursen aufgreifen. Im Anschluss daran werde ich die drei Grundprinzipien der Performativen Didaktik auf der Basis zeitgenössischer bildungstheoretischer Ansätze genauer erläutern.
Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in den 1960er Jahren in Europa und Amerika verlangten in den Künsten nach neuen demokratischen Arbeitsstrukturen, die die alten Hierarchien in Frage stellten. Wegweisend dafür waren die freien Gruppen mit ihrem forschenden Theateransatz auch außerhalb von Theaterhäusern und künstlerischen Institutionen (vgl. Hartmann 2018). Es wurde nach einem veränderten Theaterverständnis in Bezug auf das Verhältnis von Spieler*in und Figur, Körper und Text gesucht. Die Improvisation wurde dabei die zentrale Arbeitsmethode.
„Die experimentelle, gruppen- und prozessorientierte künstlerische und demokratische Arbeitsweise der Devising Performance (…) wird von ihren Akteur*innen als Teil der künstlerisch-pädagogischen Arbeitsweise entwickelt. (…) Ausgangspunkt (…) ist das eigensinnige Experimentieren und Gestalten mit einem Material, was alles sein kann: Themen, Bilder, Musik, Objekte, Texte, Biografien etc.“ (Hartmann 2018:4)
Aus diesen neuen performativen Arbeitsweisen im Theater und der Bildenden Kunst hat sich in den 1970er Jahren Drama in Education (DiE) in den angelsächsischen Ländern zu einer differenzierten Lehr- und Lernmethode entwickelt, die zunehmend Eingang in das national curriculum fand. Der Begriff Drama kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Handlung.
Unter Drama in Education wird somit ein handlungsbezogenes Lehren und Lernen verstanden, das zu den performativen Unterrichtsformen zählt: Darstellung, Inszenierung, Gestaltung, Musik, Tanz und Schreiben werden zu thematischen Einheiten miteinander verbunden. Die Lehrkraft setzt die Impulse, mit denen die Lernenden kreativ explorieren und zu eigenen Lösungen finden. Dabei steht die Förderung ästhetischer und individueller Ausdrucksmöglichkeiten learning in drama gleichrangig neben dem gemeinsamen Prozess, zuvor definierte Lernziele mithilfe ästhetischer Settings zu erreichen: learning through drama (vgl. Bolton 1979).
In Deutschland wurden erst Anfang der 1990er Jahre kreative Lernsettings für einem erfahrungs- und handlungsorientierten Unterricht entwickelt. Der Germanist und Theaterwissenschaftler Ingo Scheller hat mit seiner Methode der Szenischen Interpretation Elemente aus der Theaterpädagogik im Deutschunterricht angewandt (vgl. Scheller 2004). Zeitgleich hat sich der Deutschdidaktiker Manfred Schewe mit dem Einsatz von Drama in Education im Fremdsprachenunterricht auseinandergesetzt. Er hat als erster die Begrifflichkeit Dramapädagogik eingeführt und sich auf die angelsächsische Methode in ihren pädagogisch-ästhetischen Grundzügen bezogen (vgl. Schewe 1993). Im Prozess der Weiterentwicklung dieser Methode auch im Religionsunterricht beginnt sich der Begriff Performative Didaktik durchzusetzen.
In aktuellen pädagogischen und wissenschaftstheoretischen Fachdiskursen erlebt der Begriff Performance eine zunehmende Bedeutung für jegliche Form der individuellen Aneignung von Welt. Selbstbildung ist kein kognitiver Prozess abgetrennt von Leib und Emotion, sondern ein performatives Ereignen, das den Menschen in seinem Handeln und Ausdruck erfasst und es ihm ermöglicht, an den eigenen Weltverhältnissen selbstgestaltend mitzuwirken.
„Was bis in handlungstheoretische Entwürfe der 90er Jahre hinein nur negativ als nicht-intentional oder mystifizierend als kreativ gefasst werden konnte, erhält mit dem Begriff des Performativen, der auf Körperlichkeit, Habitualität, Dramaturgie, spielerischen Freiraum, Mimesis und durchdringende Macht des Handelns gleichermaßen hinweist, eine theoretische Form.“ (Wulf/Zirfas 2007:5)
Auch die performative Tendenz unserer Kultur, in der tägliche Inszenierungen Teil der Lebenswelt des Menschen geworden sind, findet zunehmend Beachtung innerhalb des pädagogischen Diskurses.
„Mit der Idee, Prozesse der Interaktion und dramaturgische Sprach- und Handlungsvollzüge, sowie Körperlichkeit und Materialität der Erziehungs- und Bildungssituationen in den Mittelpunkt zu rücken, fokussiert der Blickwinkel des Performativen auf Rahmungen, Szenarien, mimetische Zirkulationsformen, (theatrale) Präsentationspraktiken und Darstellungssituationen.“ (Wulf/Zirfas 2007:4)
Für eine kreative Wirklichkeitsgestaltung und die Anregung von spielerischen Lernprozessen sind konkrete performative Handlungspraktiken in der Bildungsarbeit notwendig, die für Lehrende und Lernende gleichermaßen zugänglich sind.
Hierzu zählt die Performative Didaktik, die
- Lernen als ästhetische Erfahrung versteht und den Körper mit seinen Sinnen als Grundlage von Weltaneignung anerkennt,
- eine dem Kontext der Lebenswirklichkeiten der Individuen angepasste, im Prozess befindliche Realität entwirft, die veränderbar ist und die Pluralität der Lebenswelten widerspiegelt,
- sich von hierarchisch codierten Dualismen verabschiedet.
Lernen als ästhetische Erfahrung
„Was ist Performance? Im besten Sinne die Eröffnung eines Denkraumes!“ (Weiler 2006:9)
In der altgriechischen Bedeutungsgeschichte beschreibt Ästhetik alle sinnlichen Wahrnehmungsprozesse, die im Kontext unserer eigenen Erfahrungen Empfindungen in uns auslösen und unser Bewusstsein prägen. Unsere Fern- und Nahsinne (Augen, Ohren sowie Nase, Mund, Haut) nehmen zuerst eine Wirklichkeit außerhalb unseres Selbst wahr. Erst „der Besitz unserer Sinne macht uns unserer selbst bewusst.“ (Renz-Poster/Hüther 2013:44)
Unser Körper registriert anschließend die Wirkungen, die diese Wirklichkeit auf ihn ausübt z.B. über unsere Schmerzempfindung, über Spannung und Rhythmen. Die emotionale Wahrnehmung schließlich richtet sich auf die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Wahrgenommenen anderen. Die sinnliche Wahrnehmung bildet somit den Beginn eines Denk- und Verarbeitungsprozesses (vgl. Schäfer 2016:241 ff.). Wahrnehmung ist ein Konstruktions- und Vergleichsvorgang, bei dem ein vielschichtiges Bild der menschlichen Wirklichkeit entworfen wird. Die ästhetische Wahrnehmung bemüht sich nun, diese Vielschichtigkeit in ein Gesamtbild zu integrieren und es zu interpretieren. Widersprüchliches, Unklares wird in eine verbindende Struktur gebracht. Dabei werden der eigene historische Kontext als auch Kontextbezüge außerhalb des Selbst im Wahrnehmungsprozess mitberücksichtigt. Somit ist die ästhetische Wahrnehmung ein hoch komplexer Vorgang, der ein Denken in Mustern und Metamustern erfordert (vgl. Schäfer 2016:245 ff.). Verbindet sich dieser komplexe Prozess der ästhetischen Wahrnehmung mit dem eigenen historischen Kontext, kommt es zur ästhetischen Erfahrung: „Abstraktes Denken erfordert konkrete Erfahrungen.“ (Lembke/Leipner 2015:73)
Erfahrung bedarf also eines Netzes an Beziehungen zum Außen, mit welchen sie integrierend oder abgrenzend verbunden ist. Dabei schließen sich Erkenntnis, Sinnlichkeit und Emotion in einem individuellen dynamischen Muster zusammen. Erfahrung bezieht den gesamten Bereich menschlicher Erlebnisse und Tätigkeiten mit ein und verknüpft Geschichten der Vergangenheit mit der Gegenwart. In der Erfahrung verbindet sich die analytische Wahrnehmungs- und Denkweise mit der ästhetischen. Wahrnehmung, Imagination und Denken spielen dabei zusammen, wobei Denken und Imagination nicht künstlich voneinander zu trennen sind. Die menschliche Entwicklung erfolgt also auf der Basis vorangegangener Erfahrungen, d.h. vergangener Bemühungen, die Komplexität des Erlebens zu subjektiven Erfahrungen zu verdichten und schreitet von Erfahrung zu Erfahrung fort. Die Ästhetik stellt daher einen konstitutiven Aspekt menschlicher Erfahrungsbildung dar (vgl. Schäfer 2016:247 ff.). Aus Greifen wird Begreifen, auch Schauen wird Erkennen aus Hören wird Verstehen, aus Schmecken wird Geschmack, aus Riechen wird Erinnerung.
„Der Körper als Medium, Aufzeichnungsfläche von Geschichte, Träger von Erfahrungsspuren, als Welt erschließender Leib. Körper und Stimme fungieren als Medium der Selbst- und Welterfahrung und der sinnlich-materiellen Verbindung mit Anderen. (…) In diesen Diskursen wird klar, dass auch die Sinne eine Geschichte haben und dass sie keine reinen Kanäle natürlicher Reize darstellen, sondern immer schon medial formatiert und ihrerseits als Medien formierend sind. (…) Es geht (…) um das Verständnis der Sinne selbst als leibliche Medien (…), als Medien der Wahrnehmung von Welt, Selbst und Anderem (…).“ (Wimmer 2019:80)
Unser Bildungsverständnis bietet wenig Ausgangspunkte für unmittelbare sinnliche Erfahrungen und deren Umsetzungen in Handlungen und Gestaltungen und gibt dem analytischen Denken, also einem Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn auf der Verstandesebene und damit einem zweckrationalen und funktionsorientierten Denken den Vorrang (vgl. Schäfer 2016:252 ff.). In aktuellen pädagogischen Fachdiskursen ist jedoch zu beobachten, dass dem Körper, der Leiblichkeit wieder eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Dieses ist einer übermächtig werdenden Technologie geschuldet und der daraus resultierenden Reduktion des Menschen auf Funktionalität und Produktivität.
„Immer ging es (…) auch um die Geschichte des Körpers, um seine Lösung aus der hierarchischen Opposition zum Geist, um seine Materialität und Sinnlichkeit, also um einen Kampf gegen die allgegenwärtige Gewalt der Abstraktion, die sich in unseren Tagen in Form der Digitalisierung, Mathematisierung und Algorithmisierung zu totalisieren droht.“ (Wimmer 2019:29)
Die Sinne hinterlassen Eindrücke über Vernetzungen im Gehirn und führen zu Erfahrungen und einer handelnden Aneignung von Welt. Ein Lernumfeld ohne einen vielseitigen Einsatz der Sinne bleibt daher nur ein Surrogat.
„In einer Welt, in der technisch und digital immer mehr möglich und wirklich wird, kann Kulturelle Bildung für die sinnlich-leibliche Dimension des Menschen sensibilisieren: Wir sind sinnlich-leibliche Wesen, solange wir nicht mit Maschinen verschmelzen, und genau diese Eigenart prägt unseren Zugang zur Welt. Gerade deshalb kommt der Kulturellen Bildung die Aufgabe zu, den Eigenwert und die Bedeutung der leiblichen und analogen Erfahrungen herauszustellen (…).“ (Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019:12)
In einer Zeit, in der vielen Kindern und Jugendlichen Primärerfahrungen kaum mehr möglich werden, können durch diese Interdependenz von kognitiven, sinnlichen und emotionalen Erfahrungen neue Erlebens- und Erfahrungs(spiel)räume geschaffen werden, die ein wesentliches Ziel performativer Lernprozesse darstellen.
Pluralität der Lebenswelten
„Performance heißt, Fremdes und Unerklärbares selbstverständlich erscheinen lassen.“ (Lange 2006:106)
Bildungsprozesse beschreiben die selbständige Leistung eines Menschen, Teile der Welt aufzunehmen und zu einem inneren individuellen Bild von Wirklichkeit zu verarbeiten. Sie erfolgen dann, wenn sie einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Lernenden haben, wenn sie an deren Interessen und Motivation anknüpfen. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht hier von Resonanzerfahrungen:
„Wenn Menschen eine Resonanzerfahrung (…) machen, dann bedeutet das, dass ihnen etwas begegnet oder widerfährt, das sie etwas angeht, das eine Bedeutung für sie hat. (…) Ich erreiche etwas, ich gestalte mit und ich werde durch das Mitgestaltete wieder berührt.“ (Rosa 2019:57)
Die Aneignung von Welt und somit jegliche Selbstbildungsprozesse, so Rosa, vollziehen sich in eben diesen Resonanzerfahrungen. Die Voraussetzung, dass Resonanz möglich werden kann, bedeutet, die mich als Lehrperson umgebende Welt der Menschen und Dinge genau wahrzunehmen, um Resonanz zu ermöglichen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die die Lernenden bereits gemacht haben, ihr individuelles Wissen und ihre persönlichen Fähigkeiten schaffen eine Vielfalt, durch die unterschiedliche Perspektiven offenkundig werden. Erst durch diese Anknüpfung an die unterschiedlichen Lebensumfelder werden individuelle Selbstbildungsprozesse stimuliert und Resonanzerfahrungen möglich.
„Nicht das Verfügen über Dinge, sondern das in Resonanz Treten mit ihnen, sie durch eigenes Vermögen – Selbstwirksamkeit – zu einer Antwort zu bringen und auf diese Antwort wiederum einzugehen, ist der Grundmodus lebendigen, menschlichen Daseins.“ (Rosa 2019:38)
Das individuelle Bildungsbedürfnis, das auf persönliche Entfaltung angelegt ist, sollte nicht verwechselt werden mit dem gesellschaftlichen Bildungsbedarf, dessen Ziel die Verwertbarkeit humaner Ressourcen im Sinne ökonomischen Wachstums ist. Hier steht Employability (Beschäftigungsfähigkeit) dem Empowerment (Selbstermächtigung und -bestimmung) gegenüber, rationale Handlungskompetenz dem Gefühlshandeln.
„In der Welt, der wir uns heute stellen müssen, kann Bildung ohne Fundament nicht funktionieren, sie muss immer Teil einer Menschenbildung sein. Es reicht nicht aus, auf die zukünftigen Funktionen der Kinder im Wirtschaftsleben zu schließen.“ (Renz-Poster/Hüther 2013:207 ff.)
Oder anders ausgedrückt:
„Schön, wenn Kinder schon früh schreiben können, aber zuerst brauchen sie ein emotionales Alphabet.“ (ebd.)
Ein „emotionales Alphabet“ kann nur dann entstehen, wenn Interaktionen unter Menschen möglich gemacht werden. Im Zuge einer zunehmenden Digitalisierung kommt es zu einem weitreichenden Entzug von menschlichen Kontakten. Wenn wir Beziehungen gestalten möchten und verstehen wollen, dass die Welt für jede*n anders ist, brauchen wir die analoge Interaktion: Wir lesen die Reaktionen von den Augen unseres Gegenübers, entziffern dessen Mimik, lernen also non-verbale Signale menschlicher Emotionen verstehen und darauf direkt zu reagieren. Nur wenn wir das regelmäßig erleben, können wir einen Perspektivwechsel vollziehen und Empathie entwickeln.
„Das Kind unterscheidet zwischen einer Dingwelt und einer Personenwelt: Es betrachtet Objekte als Informationsquellen, denen es lange, konzentriert und angespannt seine Aufmerksamkeit schenkt – und sich dann plötzlich abwendet. Ganz anders ist das Verhalten bei Menschen, die als Interaktionspartner gesehen werden. (…) Das große Thema ist der Wirklichkeitsbezug.“ (Lembke/Leipner 2015:22 ff.)
Durch die Improvisation als zentrales Element in performativen Lernprozessen wird erreicht, dass die Lernenden in Beziehung zueinander treten, sich austauschen, ausdrücken, präsentieren und das Ausgedrückte interpretieren. Sie verlassen dabei immer wieder ihre eigenen Rollen, um das eigeschränkte Rollenrepertoire zu erweitern, Rollenunsicherheit zu verlieren, Rollendistanz einzunehmen und übernommene Rollennormen in Frage zu stellen. Daraus resultiert ein Bewusstsein von Eigen- und Fremdwahrnehmung und eine Zunahme an Dialogfähigkeit.
„Diese Einlassungen bilden (…) die Basis einer Welthaltung der Toleranz und Offenheit gegenüber dem Anderen und bieten die Grundlage für forschendes Lernen. (…) [Es] müssen sich natürlich auch die Unterrichtssettings am performativen, forschenden und interdisziplinären Lernen orientieren.“ (Lange 2013:31)
Aus der Improvisation darf etwas Unerwartetes, etwas Irritierendes zutage treten, sie bietet Offenheit für neue Erfahrungen, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden durchlässiger. Wird in unserer hochtechnologischen Welt alles versucht, um Improvisation zu vermeiden, stellt sich gleichzeitig die Frage: Gibt es im Leben überhaupt einen Bereich, in dem wir nicht aufgefordert sind zu improvisieren? Verwerfen und entwerfen wir nicht ständig?
Möchten wir uns auf der einen Seite die Welt verfügbar machen mittels eines wachsenden digitalen Zugriffs auf alles, was unser Leben zu bieten hat, merken wir gleichzeitig, dass sich uns durch genau diese zunehmende Digitalisierung die Dinge immer mehr unserer Kontrolle entziehen. Es wächst der Konflikt zwischen einerseits dem Wunsch nach Vermeidung alles Unvorhergesehenen und Improvisierten und andererseits dem Verlust der Möglichkeiten auf etwas direkten Einfluss zu nehmen.
„In vielerlei Hinsicht wird die spätmoderne Lebenswelt immer unverfügbarer, undurchschaubarer und unsicherer. (…) Solcherlei Unverfügbarkeit [erzeugt] extreme Frustration einfach deshalb, weil ihre Selbstwirksamkeitserwartung massiv untergraben wird.“ (Rosa 2019:124 ff.)
Das, was uns bleibt, um gestalterisch wirksam sein zu können, ist unser Nahbereich, das, was für uns erreichbar und tatsächlich verfügbar ist und bleibt. Die Improvisation wird somit zum Explorationsraum, in dem wir handelnd Selbstwirksamkeit erfahren.
„Die unaufhebbare Spannung zwischen dem Versuch und dem Wunsch, Dinge und Ereignisse verfügbar zu machen, sie berechenbar und beherrschbar werden zu lassen, und der Ahnung oder Sehnsucht, sie als „das Leben“ einfach geschehen zu lassen, auf sie zu hören und dann kreativ und spontan auf sie zu antworten, zeigt sich tatsächlich auf allen Stufen in nahezu allen Prozessen unseres Lebens – von der Geburt bis zum Tod.“ (Rosa 2019:71)
Verabschiedung von hierarchisch codierten Dualismen
„Performance setzt Gewohntes außer kraft und lässt es in einem anderen Licht erscheinen“ (Lange 2006:106)
Die Haltung der Lehrperson ist im performativen Lernkontext entscheidend. Die Lehrperson wird zur Begleiterin und Impulsgeberin, um kreative, kommunikative, emotionale und kognitive Prozesse anzustoßen und mit ihnen weiterzuarbeiten. Sie macht die Lernenden auf diese Weise zu partizipierenden Entdeckern*innen und Gestaltern*innen und nicht zu Reproduzenten*innen bestehenden Wissens. Lehrende und Lernende sind dabei sowohl Wissende als auch Unwissende.
„[Es] geht um die Dekonstruktion der dualistischen Ontologie (…), das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, Technik und nicht-menschlicher Umwelt sowie sein Verhältnis zu sich und anderen aus den hierarchisch codierten Dualismen zu befreien (…). [Es] ist der Versuch, den Menschen jenseits oder außerhalb der Oppositionen zu denken, die ihn eingeschlossen, bestimmt und identifiziert haben.“ (Wimmer 2019:39 ff.)
Folgende Fragen sind konstituierend für die Haltung der Lehrperson: Wo liegen meine Räume der Inspiration und was sollte Unterricht entfalten? Mache ich mich unangreifbar oder bin ich angreifbar und kann Irrtümer eingestehen? Bin ich abschätzend oder wertschätzend und verzichte auf eine Demonstration meiner Macht? Agiere ich leistungs- oder werteorientiert und achte, was einen Menschen ausmacht? Wie und wodurch gebe ich Halt und was hält mich?
„Resonanz erfordert den Verzicht auf die Kontrolle des Gegenübers. Hören und Antworten ist eine andere Haltung als planen, machen und berechnen.“ (Rosa 2019:66 ff.)
Den Lernenden werden performative Räume angeboten, in denen sie sich selbst organisieren, ihre Ideen kommunizieren, gemeinsam Verantwortung übernehmen und Lösungsstrategien entwickeln. Auch wenn sich die Ergebnisse nicht mit den von der Lehrperson geplanten (oder gewünschten) Ergebnissen decken, sind die Bewertungsmuster „falsch“ und „richtig“ unangebracht, denn alle Ideen, Vorschläge, Angebote, die von den Lernenden in den Prozess eingebracht werden, gilt es zu wertschätzen, da sie auf deren erfahrener Lebenswelt basieren.
Lernen als ein performatives Ereignis liegt somit ein demokratisches Verständnis zu Grunde. Möchten wir, dass Kinder und Jugendliche sich zu demokratiefähigen Bürgern*innen entwickeln, ist es bedeutend, ihnen Mitspracherechte in Lernstrukturen einzuräumen und sie Verantwortung für Entscheidungsprozesse übernehmen zu lassen. Schule dürfte sich als ein Ort verstehen, an dem demokratisch gedacht und gehandelt wird. Dazu gehören Unterrichtsmethoden, die die Lernenden zu Mitbestimmung und Verantwortung ermächtigen, um Demokratie handelnd erlebbar und erlernbar zu machen. Demokratie bedeutet sich auszutauschen, Kompromisse zu finden, kontrovers zu diskutieren. Alles das ist nur in Gemeinschaft möglich, in Situationen, in denen es ein reales Gegenüber gibt, mit dem ich mich auseinandersetze, also interagiere. Demokratische Gruppenprozesse sind hierbei elementarer Bestandteil gelingender Bildungsprozesse.
„Im gemeinsamen Gestalten steht der eigene Lernprozess im unmittelbaren Zusammenhang mit der ganzen Gruppe. Jede*r Einzelne trägt Verantwortung für den gemeinsamen Lernprozess. Diese spezifischen Anforderungen an eine Gruppe erleben gerade junge Menschen insbesondere im schulischen Kontext selten. Daher bedarf es einer Sensibilisierung und Befähigung zu einer verbindlichen und reflektierten gruppenorientierten Zusammenarbeit, die die Anleitenden initiieren und unterstützen müssen. So kann gemeinsames künstlerisches Zusammenarbeiten produktiv und bildungswirksam werden, wenn zudem Themen aus den Lebenswelten der Gruppe Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Die Anliegen, Interessen und Haltungen der einzelnen Gruppenmitglieder werden durch die eigensinnige Bezugnahme auf historische, politische, gesellschaftliche, kulturelle und soziale Verhältnisse und Themen sicht- und verhandelbar.“ (Hartmann 2018:4 f.)
Zweiter Teil: Praktische Handlungs-Räume
„Es ist an sich gleichgültig, ob ich Englisch, Kunst oder Botanik unterrichte. Überall muss das Künstlerische wirksam werden.“ (Beuys 1969:52)
Im nun folgenden zweiten Teil möchte ich die Didaktik performativer Lehr- und Lernprozesse entlang wichtiger Grundprinzipien konkreter beschreiben. Ein Beispiel aus der Praxis veranschaulicht abschließend diese performativen Lernprozesse.
Durch das Schaffen einer spielerischen „Als-ob-Realität“ ergeben sich im performativen Prozess Freiräume für ästhetische Erfahrungen auf allen Sinneskanälen. Es werden Geschichten erlebt, die einer Dramaturgie unterliegen, Figuren innerhalb eines Plots entwickelt, Konflikte gelöst. Die Lernenden sind Akteure*innen dieser Geschichten, sie werden darüber in Situationen und Handlungen versetzt, in denen sie mit komplexen Problemen konfrontiert sind. Unter Einbeziehung ihrer Lebenswirklichkeit erleben sie sich als selbstwirksame Gestalter*innen ihrer (Selbst-) Bildungsprozesse. Selbstwirksamkeit bedeutet, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Können zu haben, Neues erfolgreich zu lernen und Herausforderungen gut zu bewältigen.
„In einer systemisch-konstruktivistischen Didaktik kann daher Wissen nur auf Grundlage eigener, subjektiver Erfahrung individuell aufgebaut werden (…) ein Balanceakt zwischen Anschlussfähigkeit und Irritation. Die Irritation muss anschlussfähig gestaltet sein, sie soll nicht überfordern, sondern herausfordern, neue Erfahrungen zu machen.“ (Anklam/Meyer/Reyer 2019:19 ff.)
Um die hierarchisch codierten Dualismen aufzuheben, geht die Lehrperson manchmal sogar selber in eine Rolle. Das performative Element der Lehrperson in Rolle (LiR) kann dazu beitragen, eine fiktive Situation leichter aufzubauen, eine emotionale Identifikation auf Seiten der Lernenden länger aufrecht zu erhalten sowie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene schneller in die Lernverantwortung zu bringen. Tritt die Lehrperson selbst als Figur auf, ist die gewohnte Hierarchie zwischen Lehrenden und Lernenden und somit auch die klassische Schulsituation aufgehoben.
„Didaktik = Nachdenken über Vermittlungspraxis. (…) Wir tun folglich etwas, um etwas anderes damit zu ermöglichen. (…) Der wesentliche Effekt didaktischer Reflexion ist demzufolge weniger, Wissen zu generieren, das Vermittlungsprozesse stabilisiert und sichert, sondern vielmehr didaktische Phantasie freizusetzen (…) mit dem Anliegen, diese Phantasie in Handlungslust zu transformieren, die ihre ungewissen, undurchsichtigen und teilweise experimentellen Anteile – aber auch ihr mögliches Scheitern – als notwendig erachtet.“ (Sack 2019:6 ff.)
Performative Einheiten unterliegen einem dramaturgischen Prinzip, bestehend aus einzelnen Sequenzen (= Szenen), die einen gewissen Zeitrahmen haben. Die Reihenfolge und die Dauer der einzelnen Sequenzen obliegen dabei einer zuvor von der Lehrperson festgelegten Dramaturgie, in die der spielerische Prozess eingebettet ist. Es wird auf drei Aktivitätsebenen agiert: Der Ebene der Entwicklung, Präsentation und Reflexion. Dazu bedarf es einer Arbeitsatmosphäre und eines Lernumfeldes, das dazu ermutigt, eigene Ideen und Gedanken angstfrei einzubringen.
„Didaktisches Denken muss entsprechend selbst Grundzüge des Spiels annehmen, um Möglichkeitsräume auszuschließen und so Handlungsphantasie freizusetzen (…) [und eine] Verschränkung von fiktionaler und alltäglicher Wirklichkeit zum Spielmotor machen.“ (Sack 2019:7 ff.)
Auf der Entwicklungsebene werden drei wesentliche Lernziele verfolgt: Durch die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Ideen beginnen die Lernenden, sich als aktive Teilnehmer*innen zu erleben, was sie in ihrer Verantwortungsbereitschaft für den Lernprozess stärkt. Die Erkenntnis, dass sie fähig sind, ihre Ideen zu kommunizieren und sie ermuntert werden, Fragen zu stellen, fördert ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstverständnis. Das gemeinsame Arbeiten an einer Geschichte, das Teilen und Formen von Ideen, das Zuhören und Akzeptieren verschiedener Meinungen, ohne dabei den eigenen Standpunkt zu verlieren, fördert die Sensibilität für ein soziales Miteinander.
„Kinder [brauchen] Umwelten, in denen sie wirksam sein können (…), in denen sie sich selbst organisieren können, (…) die mit ihrer Unmittelbarkeit unter die Haut gehen, (…) die Bindungen ermöglichen.“ (Renz-Polster/Hüther 2013:61)
Der Prozess des Entwickelns und Experimentierens ist abgeschlossen, das Ergebnis inhaltlich und ästhetisch durchdrungen, es ist präsentier- und ggf. wiederholbar. Um dieses erarbeitete Produkt im Plenum zu zeigen, bedarf es eines Textes, was jedoch nicht nur das gesprochene oder geschriebene Wort bedeuten muss, sondern auch eine Improvisation, eine Bewegung, ein Bild oder ein Rhythmus sein kann. Es gibt verschiedene Zeichen- und Symbolsysteme, die eine Aussage transportieren.
Auf der Aktivitätsebene der „Präsentation“ sind zwei Lernziele entscheidend: Im Prozess werden erarbeitete Ergebnisse immer wieder vor einem Publikum präsentiert. Das erfordert den stetigen Mut, sich zu zeigen, sowie das wachsende Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, diese ernst zu nehmen und selbstbewusst zu präsentieren. Das Verständnis für dramatische Ausdrucksformen wächst umso mehr, je häufiger szenische Elemente im Unterricht eingesetzt werden. Die Ästhetik der verschiedenen Zeichensysteme wird bewusster angewandt und die Bandbreite des individuellen Ausdrucksvermögens erweitert sich.
„Dabei geht es nicht in erster Linie darum, gängige oder wirksame Darstellungsformen zu finden, sondern um Prozesse der Wirklichkeitsgenerierung im Sinne eines spezifischen Zugangs zur Welt, der gemeinsam gesucht und gefunden werden soll. Durch dieses gemeinsame künstlerische Gestalten (…), können neue Handlungs- und Erfahrungsräume für die teilnehmenden Spieler*innen eröffnet werden, in denen sich Selbst- und Weltverhältnisse verändern und somit Bildungsprozesse stattfinden können.“ (Hartmann 2018:5)
Die Lernenden werden regelmäßig zusammengeführt, um gemeinsam die erarbeiteten Ergebnisse zu reflektieren und zu diskutieren. Der Prozess des Reflektierens bedeutet, darüber nachzudenken, was es heißt zu sagen: „Das war toll!“ oder „Das hat mir nicht gefallen!“ Die Reflexion umfasst dabei den Inhalt und die gewählte dramatische Form.
Auf der Aktivitätsebene der „Reflexion“ sind zwei Lernziele entscheidend: Die Lernenden entwickeln durch stetiges Zeigen und Sehen ästhetischer Ergebnisse Kriterien, die sie in die Lage versetzen, darüber zu reflektieren, was ein ästhetisches Produkt aussagt und wie es die Aussage transportiert.
„Das gilt insbesondere dann, wenn Kulturelle Bildung als allgemeine Bildung in den Künsten, durch die Künste und zu den Künsten verstanden wird.“ (Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019:10)
Ein Beispiel aus der Praxis
Im Dezember 2019 springe ich für eine Kollegin in einem Kurs im Lernfeld „Theater und Kunst“ an einer Fachschule für Erzieher*innen in Berlin ein. Da ich den Kurs nicht kenne und nicht weiß, was die Kollegin bereits gemacht hat, gebe ich den Studierenden zu Beginn drei Wahlmöglichkeiten. Sie entscheiden sich per Abstimmung für das Thema „Vom Bilderbuch zum Theaterstück“. In der nächsten Sitzung am darauffolgenden Montagmorgen um acht Uhr treffe ich auf 10 (von 22) müde Studierende. Das ist nicht ungewöhnlich, passiert jeden Morgen um acht, also fange ich an, das Buch vorzulesen und die Bilder zu zeigen. Nach und nach füllt sich der Raum. Ich teile den Kurs in zwei Gruppen auf und gebe jeder Gruppe einen Arbeitsauftrag. Sie erfüllen ihre Aufgabe solide, es ist mittlerweile neun Uhr, doch die Ermattung ist weiterhin groß.
Da ich die Studierenden nicht kenne, weiß ich nicht, an welche Lebenswelten ich anknüpfen soll, um Begeisterung zu entfachen. Auch habe ich keine Idee, auf welche Art und Weise ich spontan ihre Körper mit in den Lernprozess einbeziehen kann. Also entscheide ich mich, die klassische Hierarchie von Lernenden und Lehrender aufzulösen, alles abzugeben und es zu ihrer Sache zu machen und abzuwarten, was passiert.
Auf die Tafel schreibe ich zuvor noch die Gewerke, die es braucht, um eine Produktion ins Laufen zu bringen: Dramaturgie, Regie, Kostüme, Bühne, Musik, Licht/Technik. Sie sind dazu aufgefordert sich zu überlegen, wer was übernehmen möchte. Ich schließe den Kunstraum auf, dann verlasse ich den Kurs.
Ich gehe in das Dozenten*innenzimmer, trinke einen Kaffee, schaue aus dem Fenster und atme durch. Zehn Minuten verbringe ich dort, bevor ich wieder zurück in den Kursraum gehe. Als ich die Tür öffne, betrete ich eine andere Welt. Niemand sitzt mehr auf einem Stuhl, überall stehen Menschen, die miteinander diskutieren, wilde Skizzen auf den Flipchart zeichnen, Tische zur Seite schieben und Stühle stapeln. Die nächsten drei Stunden bin ich nicht mehr wichtig. Nur ab und zu zur Absicherung, dass das Material aus der Kunst auch verwendet werden darf. Was war passiert in den letzten zehn Minuten?
„Es genügt nicht, dass ich auf die Welt zugreife, sondern Resonanz setzt voraus, dass ich mich anrufen lasse, dass ich affiziert werde, dass mich etwas von außen erreicht.“ (Rosa 2019:50)
Doch was hat die Studierenden affiziert? Was hat die Resonanzbeziehung ausgelöst und wie ist daraus ein performativer Prozess der Aneignung von Welt entstanden?
Sechs Stunden später wird das Stück geprobt, die beiden Regisseurinnen leiten die Proben, fast alle anderen spielen, und zwei Stunden später wird es aufgeführt. Ich bin geladener Gast, soll und will den Probenprozess nicht anschauen, sondern mich überraschen lassen. Das Ergebnis ist eindrucksvoll. „Das war der beste Kurs in den letzten zwei Jahren!! Ich hatte so viel Spaß und hab Neues gelernt und viel ausprobiert.“ Fast einstimmig das Feedback. Ein Glücksfall? Ausnahme? Sicherlich, aber dennoch nicht einfach so passiert…
„Es ist immer und unmittelbar im Spiel, wenn wir angerufen werden bzw. uns affizieren lassen, wir antworten darauf körperlich, emotional und mental und transformieren uns (…).“ (Rosa 2019:117)
Im Feedback wurde deutlich, was die verschiedenen Studierenden affiziert und den performativen Prozess entfacht hat:
- Auflösung der Hierarchie: Die Studierenden haben sich durch die Auflösung der Hierarchie und die Übernahme der Verantwortung als selbstwirksam erlebt. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, um neue Herausforderungen als positiv zu erleben: „Als Sie den Raum verlassen haben, haben wir die Aufgabe zu unserer gemacht!“
- Vielfältige Sinnesanregungen: Die Leute aus der Gruppe Bühnenbild haben sich durch das vielfältige Material, das sie im Kunstraum umgab, affizieren lassen. Ihnen waren keine Grenzen gesetzt, sie durften alles benutzen und damit gestalten. Das Material und der unbegrenzte Umgang damit hat sie in den performativen Prozess gebracht.
- Anknüpfung an die eigene Lebenswirklichkeit: Die Menschen aus der Gruppe Musik, deren Alltag aus Musik hören und machen besteht, wollten ihr Wissen und ihre Kompetenzen mit einbringen. Da sie Theatermusik bisher noch nicht gemacht hatten, stellte dieses für sie neue Genre eine positive Herausforderung dar, die sie in den performativen Prozess einsteigen ließ.
- Der Nahbereich wird zum selbstwirksamen Gestaltungsbereich: Die beiden Regisseurinnen hatten Lust darauf, sich einmal in einer völlig neuen Rolle auszuprobieren, ganz ohne Vorwissen und Fertigkeiten. Mithilfe von Improvisationen erarbeiteten sie mit den Spielern*innen zusammen das fertige Stück. In diesem überschaubaren Nahbereich entwickelte sich Vertrauen in sich selbst und in den Kurs. Der performative Prozess entstand durch die Transformation von Vertrauen in Zutrauen.
- Demokratische Gruppenprozesse: Die Studierenden der Gruppe Dramaturgie hatten die Aufgabe, aus einem Bilderbuch mit wenig Text ein Theaterskript bestehend aus mehreren Szenen dialogisch zu entwickeln. Dabei waren sie aufgefordert, sich immer wieder mit allen anderen Gruppen über deren Prozesse auszutauschen, um deren Ideen in das Skript mit einzuarbeiten und zwischen den einzelnen Gruppen bei Uneinigkeiten zu vermitteln. Die stetige Kompromissfindung war Teil ihrer Verantwortlichkeit für einen gelingenden performativen und demokratischen Gruppenprozess.
Ich denke, in diesem Beispiel wird zusammenfassend sehr deutlich, wie wichtig die Performative Didaktik für eine zeitgemäße Lernkultur ist, in der alles das Anwendung findet, was in aktuellen theoretischen Fachdiskursen Bildungsprozesse beinhalten sollten: Durch die Auflösung der Hierarchie sind die Studierenden in die Eigenverantwortung für ihre Selbstbildungsprozess gegangen. Auf der sicheren Grundlage der eigenen Lebenswirklichkeit haben sie neue Wege erforscht und sie zu ihren gemacht. Der Nahbereich wurde durch die Improvisation zum Gestaltungsbereich. Sie haben sich Welt angeeignet und sich dabei als selbstwirksam erlebt. Vielfältiges, die Sinne anregendes Material, hat sie unterstützend in performative Prozesse gebracht. In demokratischen Gruppenprozessen entstand gemeinsam ein kreatives Produkt, das am Ende des Seminares präsentierbar war.
Voilá. Das Seminar war eine gelungene Performance und endete mit einem beglückten Lächeln… auf allen Gesichtern.
„Lebendiges Lernen (…) entfaltet sich in einem Klima, das mich dazu beflügelt, auf eine bestimmte Weise mit der Welt in Beziehung zu treten.“ (Rosa 2016:16)
Ulrike Winkelmann ist Diplom- und Theaterpädagogin (BuT), lebt in Berlin und ist seit vielen Jahren im weiten Feld des Theaters tätig. Derzeit arbeitet sie in der beruflichen Ausbildung an einer Fachschule für Erzieher*innen sowie als Regisseurin am Fliegenden Theater und als Autorin. Seit 2016 hat sie ihr eigenes Label „Vergnüglich Lernen“, was einen Verlag und ein Online-Portal mit performativen Unterrichtsmaterialien beinhaltet.