Interview mit Jutta Birnbickel – Lehrerin in Norwegen
Jutta Birnbickel ist in Bayern zur Schule gegangen. Sie hat auf Lehramt in Lüneburg studiert, ist dann aber nach Norwegen gegangen und hat Ihr Studium dort abgeschlossen. Heute ist sie Lehrerin in Norwegen und Amelie aus unserem Verein „Eine Schule für Alle in Bayern e. V.“ hat mit ihr ein Interview geführt.
Amelie: Warum wolltest du nicht in Bayern Lehrerin werden?
Jutta: Ich selbst habe die Schule in Bayern als unglaublich negativ in Erinnerung und ich bin dann auch nach Hamburg gezogen, wo das Schulsystem ganz anders war. In Bayern habe ich erlebt, dass diejenigen Lehrer geworden sind, die schon als Schüler nichts kritisiert haben. Ich war eine der wenigen im Lehramtsstudium, die das Schulsystem kritisiert haben. Das große Problem ist, dass diejenigen, die das Schulsystem kritisieren, selten Lehrer werden.
Was hast du am Schulsystem in Bayern kritisiert?
Alles. Das ganze System. Von den Hausaufgaben bis zum Umgang mit den Schülern.
Warum hast du dein Studium in Deutschland abgebrochen?
Weil ich etwas am Schulsystem verändern wollte. Ich habe im Nachhinein verstanden, was am bayerischen Schulsystem total schlecht ist. An der Uni in Lüneburg habe ich zum ersten Mal den Curriculum in Bayern gelesen. In Bayern wäre ich niemals Lehrerin geworden. Hier in Norwegen hat man ein gutes Verhältnis zu seinen Schülern und das ist mir sehr wichtig.
Der Curriculum in Bayern war so, dass du die Schüler so unterrichten solltest, dass sie nicht irgendwelche Meinungsäußerungen haben. Du sollst sie einfach „vollstopfen“, das heißt auswendig lernen ohne zu reflektieren. Da gibt es keine kritische Erziehung im Gegensatz zu Norwegen.
In Bayern sollen die Schüler*innen vieles einfach auswendig lernen und in Norwegen wird sich viel mehr mit Dingen kritisch auseinander gesetzt?
Ja, in Norwegen gibt es ein ganz anderes Curriculum als in Bayern. Deshalb kann man auch in ganz Norwegen als Lehrkraft unterrichten, in Deutschland nur in dem Bundesland, wo man das Lehramt gemacht hat.
Längeres Gemeinsames Lernen ist in Norwegen der Standard, bis zur 8. Klasse.
Wo würdest du die größten Unterschiede zwischen der Schule in Norwegen und in Deutschland sehen?
In Norwegen gibt es eine Schule für alle und bis zur achten Klasse gibt es keine Noten. Ich denke, dass sind die beiden größten Unterschiede. Wenn ich meinen Schülern erzähle, dass die Kinder in Deutschland nach der 4. Klasse sortiert werden, verstehen sie das überhaupt nicht.
Norwegens Schulsystem ist inklusiv.
Wie inklusiv ist das Schulsystem in Norwegen?
Alle Schüler werden integriert. Auch Schüler mit Behinderung gehen in normale Schulen. Oft gehen sie mit allen anderen zusammen in den Unterricht. Meistens haben sie aber ihre eigenen Lehrkräfte/Betreuungslehrkräfte.
Wenn man beispielsweise Legastheniker ist, bekommt man spezielle Computerprogramme und man wird gefördert, sodass man ganz normal den Schulalltag bewältigen kann. Schüler mit großen Schwierigkeiten können sich auch von der Fremdsprachebenotung befreien lassen, aber nicht vom Fremdsprachenunterricht.
Wir haben hier an der Schule zum Beispiel auch ein paar Schüler, die schlecht hören. Im letzten Schuljahr habe ich dann einfach immer mit Mikrophon gearbeitet und das mussten dann auch die anderen Schüler*innen nutzen. Auch auf Kinder und Jugendliche mit Sehschwäche sind bei uns im Unterricht mit dabei.
In Bayern wird leider immer noch viel zu sehr auf das Förderschulsystem gesetzt.
Wenn ich das den norwegischen Schülern erzähle, können die es die Schüler nicht fassen, dass es so etwas überhaupt gibt.
Ich denke, da ist es ein großer Vorteil, dass es kein viergliedriges Schulsystem mit früher Selektion gibt.
Digitalisierung:
Du hast vorhin angesprochen, dass Legastheniker*innen spezielle Computerprogramme nutzen dürfen. Wie fortgeschritten ist die Digitalisierung allgemein in den Schulen?
Die Kinder arbeiten schon in der Grundschule mit Tablets. Das wird aber auch ziemlich kritisiert, weil die Schüler dadurch die Handschrift verlernen. Für vieles gibt es Lernprogramme, deshalb tippen die Schüler das meiste. Aber auch alle Prüfungen sind online. In der Oberstufe haben alle SchülerInnen ihren eigenen Laptop. Alle Aufgaben sind digital und werden digital abgegeben.
Bildungsgerechtigkeit
Wie gerecht ist das Schulsystem in Norwegen? In Deutschland ist es leider so, dass die Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium zu besuchen, wenn beide Eltern Abitur haben, bei 75% liegt. Wenn sie kein Abitur haben nur bei 28%.
Der Vorteil in Norwegen ist, dass alle auch wenn sie eine Berufsausbildung machen im Schulsystem bleiben. Also gehen alle 13 Jahre in die Schule. Aber wenn man in die Berufsschule geht, kann man noch ein Jahr länger machen und dann hat man auch die Hochschulreife.
Wie gerecht ist sonst das Bildungssystem? Müssen Fördermittel extra beantragt werden?
Das Grundprinzip ist, dass Bildung umsonst ist. Die Schule muss alles finanzieren, damit die Eltern nichts kaufen müssen. Die Schüler bekommen auch Bleistifte, Radiergummis und Hefte, etc. von der Schule gestellt. Auch Klassenfahrten müssen gratis sein. Dann organisiert die Klasse Aktionen, womit sie Geld verdienen können (Kuchen backen, Klopapier verkaufen, Pfandflaschen sammeln, ….)
Wo siehst du den Vorteil in einer Schule für Alle gegenüber dem viergliedrigem Schulsystem in Deutschland?
Für die Schüler ist es einfach besser nicht sortiert zu werden. Diese Selektion löst so viel Druck und Stress aus, was bei einer Schule für alle wegfällt. Das Wichtigste sollte doch sein, dass alle Schüler Spaß in der Schule haben.
Würdest du auch sagen, dass der Vorteil nicht nur darin besteht, dass die Kinder nicht wie bei uns in der 4. Klasse selektiert werden, sondern auch durch die Vielfalt profitieren, wenn alle Schüler*innen auf eine Schule gehen?
Ja, Menschen sind unterschiedlich. Das muss auch für die Schule gelten.
Wie individuell lernen die Schüler*innen, wenn alle auf eine Schule gehen?
Als Lehrkraft ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Schnelleren mehr arbeiten, als die nicht so Schnellen. Man muss darauf schauen, dass sich keiner langweilt, aber trotzdem alle mitkommen. Dafür haben die Schüler eigene Arbeitspläne.
Wenn man zum Beispiel sehr gut in Mathe ist, kann man Mathe schon für die nächste Jahrgangsstufe machen. Wenn man besonders gut ist, kann man sogar schon mit Universitätsstoff anfangen.
Gibt es eigentlich einen Bildungsföderalismus?
Die Schule und Lehrkräfte haben selbst Freiheiten. Zum Beispiel ist hier die Abschlussprüfung zentralisiert im Gegensatz zu Deutschland, wo es in jedem Bundesland ein anderes Abitur gibt.
Demokratie
Wie demokratisch ist das Schulsystem in Norwegen? Ist es so, dass die Lehrkraft bestimmt, was gemacht wird und dann machen das die Schüler*innen? Oder dürfen sie selbst bestimmen, was sie lernen wollen und wie der Schultag aussieht?
Demokratie ist hier ganz wichtig und einer der Grundsätze im norwegischen Schulsystem. Das gilt für alle Fächer. Demokratie und auch nachhaltige Entwicklung ziehen sich durch den ganzen Lehrplan durch. Aber natürlich gibt es für alle Fächer Lerninnhalte, an die man sich halten muss.
Ich frage meine Schüler, wie ich sie prüfen soll. Ob sie eine Probe schreiben, einen schriftlichen Text, einen mündlichen Powerpoint etc. haben möchten und die Schüler entscheiden selbst. Ich frage sie, welches Thema sie besonders interessant finden und worüber sie dann eine Prüfung schreiben wollen. Es gibt Fächer mit nur mündlichen Prüfungen, aber auch Fächer mit mündlichen und schriftlichen Prüfungen. Dann muss natürlich beides geübt werden. Bei der mündlichen Prüfung kommt ein Lehrer von einer anderen Schule und gibt die Note, während der Lehrer des Schülers die Prüfung durchführt.
Gibt es auch Schulparlamente, damit die Schüler*innen das Schulleben mitgestalten können?
Ja, selbstverständlich. An meiner Schule wurden beispielsweise erst letztens geschlechtsneutrale Toiletten eingeführt, weil es das Schulparlament so beschlossen hat.
Lernen ohne Noten, geht das?
Wie lernen eigentlich die Schüler*innen, wenn es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt?
Die Schüler sind hier in Norwegen nicht schlechter, sie lernen viel mehr sich mit Dingen kritisch auseinanderzusetzen.
Das Verrückte ist, dass die Deutschen sich fragen, warum die Norweger lernen, wenn sie keine Noten bekommen. Die Schüler bekommen ein Feedback und können sich gar nicht vorstellen, schon in der 2. Klasse Noten zu bekommen. Hier gibt dieses „Belohnungssystem“ überhaupt nicht, dass die Schüler nur für Noten lernen. Du lernst etwas, weil du etwas wissen möchtest und nicht weil du eine Note bekommst.
Jutta hat zusätzlich Ihre Schüler:innen befragt, wieso sie lernen, obwohl es keine Noten gibt. Einige der Antworten haben wir für Euch in diesem PDF zusammengefasst. Why are we learning when we don’t get grades
Jeder Mensch hat ja Fächer, die einen mehr oder weniger interessieren. Ist es dann auch die Aufgabe der Lehrkraft die Schüler*innen so zu motivieren, dass sie jedes Fach interessant finden?
Ja, klar. Auf jeden Fall.
Und funktioniert das dann auch? Weil für viele hier in Deutschland wäre das unvorstellbar. Es wird immer wieder gesagt „ohne Noten lernen Kinder nicht“.
Das ist Blödsinn. Hier hat man Gespräche mit dem Schüler und den Eltern. Es wird besprochen und aufgeschrieben, was das Kind schon gut kann und wo es noch Schwierigkeiten hat. Durch das Feedback weiß der Schüler und die Eltern, was er oder sie noch lernen muss, um an das Ziel zu kommen.
Hier in Deutschland können sich viele Schüler*innen das Lernen ohne Noten gar nicht vorstellen, weil sie einfach immer nur für Noten lernen und gar nichts anderes kennen. Es wird permanent bewertet und benotet.
Wie schafft ihr es dann, dass die Schüler*innen kontinuierlich Feedback bekommen?
Wenn die Schüler etwas erarbeitet haben, kriegen sie das ja zurück und sehen, was gut und was nicht so gut war.
Gibt es dann auch Punkte für die einzelnen Aufgaben?
Nein, bis zur achten Klasse gibt es weder Punkte noch Noten. Die bekommen ein Schreiben, auf dem steht, wie sie gearbeitet haben, wo ihre Stärken und Schwächen liegen.
Können die Schüler*innen auch sitzen bleiben?
Nein, so etwas gibt es bei uns nicht. Wenn Schüler sehr große Schwierigkeiten in einem Fach haben, dann bekommen diese Kinder eine eigene Lehrkraft, die sie unterstützt.
Wie ist es mit den Tests? Wird permanent alles mit Tests bewertet und überprüft?
Die Schüler lernen ja. Bei dem Kleineren wird noch viel spielerisch gemacht und die Schüler*innen haben Aufgaben, die sie machen. Das wird korrigiert und daran sieht man ja schon, was sie können und nicht können.
Es gibt Schulen in Norwegen, wo sie mehr oder weniger Tests haben. Ich bin an einer Schule, wo die Schüler weniger Tests haben sollen und stattdessen mehr alternative Bewertungsmöglichkeiten eingesetzt werden sollen. An meiner Schule sollen die Schüler im ersten Halbjahr keine Noten, sondern nur Feedback bekommen. Wir machen das, damit die SchülerInnen genau sehen, wo es Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Wenn sie nur eine Note bekommen, sehen sie nicht, was sie falsch gemacht haben.
Gibt es in Norwegen unangekündigte Leistungsnachweise, also Abfragen (Rechenschaftsablagen) und Exen (Stegreifaufgaben)?
Nein, auf keinen Fall. Bei uns geschieht nichts unangekündigt. Aber es ist wichtig sich aktiv im Unterricht einzubringen. Das heißt aber nicht, dass sie vor der Klasse Fragen beantworten müssen. Wir haben einige SchülerInnen mit Angst, aber in kleineren Gruppen ist es meistens kein Problem, dass sie sich einbringen und ich sehe, was sie können. Im Fremdsprachenunterricht ist es mir sehr wichtig, dass alle etwas im Klassenzimmer sagen können ohne Angst zu haben.
Hier in Bayern ist das ganz anders. Fast jede Stunde wird ein*e Schüler*in unangekündigt vor der ganzen Klasse abgefragt.
Die Zeit jemanden abzufragen kann man doch viel besser nutzen! Wenn bei uns ein Lehrer, die Schüler so abfragen würde, wie es in Bayern üblich ist, würde man ihm sofort kündigen. Man darf seine Schüler doch nicht vor der Klasse bloßstellen! So etwas dürfte man niemals machen, dafür gibt es eigenen Paragraphen im Schulgesetz.
Das ist so krass. Für uns ist die Angst alltäglich vor der Klasse bloßgestellt zu werden und in Norwegen ist das verboten.
Ich finde es interessant zu sehen, dass es bei euch in Norwegen genau das nicht oder nur eingeschränkt gibt, was bei uns Schüler*innen in Deutschland so viel Druck und Stress erzeugt. Also permanente Benotung, Prüfungen, Sitzenbleiben, der Übertritt in der 4. Klasse, unangekündigte Leistungsnachweise, etc. Mir wird immer wieder gesagt, sonst würde Schule nicht funktionieren und keine*r würde mehr lernen. Dabei sieht man doch an Ländern wie Norwegen, dass es sehr wohl funktioniert!
Wenn doch so viele Expert*innen sagen, dass das Schulsystem in Skandinavien besser ist, warum ändert sich dann nichts in Bayern, bzw. in Deutschland?
Weil sich dort viele Menschen ein anderes Schulsystem nicht vorstellen können. Norwegen hat auch eine ganz andere Geschichte. Beispielsweise war ein demokratisches Bewusstsein schon immer sehr wichtig.
Denkst du, dass sich hier im Bildungssystem kaum etwas verändert, weil auf der einen Seite diese Utopie „wie könnte es sein“ fehlt und auf der anderen Seite wird sich an ein altes, angeblich bewährtes System geklammert?
Ja, bestimmt ist es so.
Wie kommt es, dass es in Norwegen eine Schule für alle gibt? In Bayern wäre so etwas unvorstellbar.
Das hat historische Gründe. Hier in Norwegen hatten wir eine Gesellschaft, in der jeder mit jedem zusammen war und es war völlig egal was für eine Ausbildung man hatte. Das hat sich mittlerweile natürlich auch geändert.
Aber in Deutschland war und ist es so, dass beispielsweise Leute, die studiert haben auch meistens mit anderen Leuten, die auch studiert haben, zusammen sind.
Denkst du das ist der Grund dafür, dass es hier so großen Widerstand gegenüber einer Schule für alle gibt? In Norwegen war es historisch so, dass alle Menschen gleich sind, deshalb gehen auch alle auf eine Schule. Aber in Deutschland wurden die Kinder schon früh in unterschiedliche Schulformen getrennt, um die gesellschaftlichen Klassen aufrecht zu erhalten?
Ja, hier in Norwegen haben alle zusammen gelebt und waren auf sich angewiesen. Es gibt ein norwegisches Wort, das heißt „dugnad“ und meint anderen zu helfen. Alle Sportvereine haben z.B. Dugnadstage. Da helfen dann alle zusammen und reparieren zusammen etwas oder organsieren einen Flohmarkt, damit es Geld für eine Reise gibt. Hier gibt es einen ganz anderen Umgang miteinander.
Wir helfen einander und sortieren nicht untereinander.