Gegen die Ohnmacht und Bloßstellung:
    Schluss mit Abfragen und Exen!

    Für eine Verbesserung von Lehr-/ und Lernkultur: Unterstützt die Petition ‚Schluss mit Abfragen und Exen

    Von einem Schulsystem, das wenig Raum für Menschlichkeit und Mitgefühl lässt und stattdessen durch Selektion und Bloßstellung Angst erzeugt, berichtet eine Schülerin aus eigener Erfahrung.

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    Für Menschlichkeit im Klassenzimmer

    Buchcover - Die Würde des Schülers ist antastbarDie Würde des Schülers ist antastbar“. So heißt das Buch von Kurt Singer, das 1998 erschien und leider immer noch aktuell ist. Darin beschreibt Singer zahlreiche Fälle, in denen Schüler*innen von Lehrkräften gedemütigt, bloßgestellt und erniedrigt werden. Oftmals werden diese Vorfälle als „Einzelfälle“ verharmlost, obwohl sie häufig auftreten und selten angemessen darauf reagiert wird.

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    Systematische Bloßstellung und Demütigung an Bayerns Schulen

    Von „Einzelfällen“ kann hier nicht die Rede sein. In Bayern hat das Bloßstellen und Demütigen vor der Klasse System. Jeden Tag werden die Schüler*innen von der Lehrkraft abgefragt, es werden unangekündigte Tests geschrieben und Schüler*innen werden regelmäßig aufgerufen, ohne dass sie sich melden. Das Bloßstellen ist bei uns institutionalisiert.

    Für uns Schüler*innen bedeutet das ständigen Druck und Stress, da jederzeit unangekündigte Tests und Abfragen drohen. Man fühlt sich hilflos und bloßgestellt. Besonders wenn man die Fragen nicht beantworten kann oder ungern vor großen Gruppen spricht. Dieses Gefühl der Ohnmacht wird durch die enorme Macht der Lehrkräfte noch verstärkt. Noten sind immer subjektiv. Deshalb ist es traurig, aber auch verständlich, wenn Kinder und Jugendliche sich nicht trauen, zu einer Person zu gehen, die vor allem Prüfer*in ist und enorme Macht über die eigene Zukunft hat. Die Lehrkraft entscheidet, die Schüler*innen müssen gehorchen.

    Selektion statt Kollaboration

    In der Unterstufe, besonders in der 5. Klasse, war die Selektion am Gymnasium besonders schlimm. Die Lehrer*innen legten großen Wert auf das Abfragen und unangekündigte Tests, um möglichst viele Schüler*innen auszusortieren. Das wurde uns auch immer wieder deutlich gemacht: „Wenn ihr schlechte Noten habt, gehört ihr nicht auf diese Schule.“ Ein Lehrer sagte sogar: „Der Maurer hat extra ein Loch in der Wand gelassen [gemeint war die Tür], damit diejenigen, die nicht geeignet sind, diese Schule wieder verlassen können.“ Auch ich hatte trotz überwiegend guter Noten ständig Angst, nicht zu genügen.

    Der immense Leistungsdruck diente dazu, Schüler*innen zu selektieren. Wer diesem Druck nicht standhielt, musste die Schule verlassen. Bei Abfragen wurde das Scheitern der Schüler*innen demonstrativ zur Schau gestellt, was das Selbstbewusstsein schwächte. Ich erinnere mich, wie regelmäßig Schüler*innen bei Abfragen weinten und die Lehrkraft ungerührt weitermachte, die Schuld bei der Schüler*in suchend: „Tja, hättest du halt lernen müssen.“

    Man muss sich nur vorstellen, was das für ein 10-jähriges Kind bedeutet, das gerade in die neue Schule gekommen ist, seine Mitschüler*innen kaum kennt und schon nach wenigen Tagen in der neuen Umgebung vor der ganzen Klasse abgefragt wird. Die Schülerin kann viele Fragen nicht beantworten, fühlt sich vor der ganzen Klasse gedemütigt und ist so verzweifelt, dass sie weinen muss. Anstatt das Kind aus dieser schrecklichen Situation herauszuholen, wird ihm von der Lehrkraft vor allen erklärt, dass es, wenn es weiterhin so unvorbereitet ist, niemals am Gymnasium bleiben kann.

    Psychische Belastung und fehlendes Mitgefühl

    Der Schulalltag wird für viele Schüler*innen zum Albtraum. Lernen wird mit Angst und Panik verbunden. Spaß am Lernen und Potenzialentfaltung gibt es leider kaum. Viel zu viele Schüler*innen hassen die Schule, haben Bauchschmerzen bei dem Gedanken an die Schulaufgabe und trauen sich nicht, der Lehrkraft mitzuteilen, wie es ihnen geht. Stattdessen wissen Schüler*innen, dass sie um jeden Preis im Schulsystem funktionieren müssen.

    Wie kann es sein, dass Lehrer*innen kein Mitgefühl zeigen, wenn bei einer Abfrage 10-jährige Schüler*innen weinend vor ihnen sitzen? Wo bleibt die Menschlichkeit, wenn Lehrkräfte weiter abfragen und die Schüler*innen vor der Klasse demütigen? Auf Elternabenden wird dann behauptet, die Kinder müssten einfach mehr lernen und seien selbst schuld, wenn sie sich bloßgestellt fühlen.

    Machtmissbrauch und systemische Legitimation

    Ich habe schon viele Lehrkräfte erlebt, die „wir schreiben jetzt eine Ex“ als Witz verwenden, um sich an der Panik der Schüler*innen zu erfreuen. Einige Lehrkräfte fragen sogar diejenigen Schüler*innen ab, die davor gesagt haben, dass sie nicht lernen konnten oder es nicht verstanden haben.

    Obwohl Lehrer*innen laut Schulordnung nicht dazu verpflichtet sind, abzufragen und Exen zu schreiben, tun es viele trotzdem, da es an der Schule auch von den anderen Lehrkräften so gemacht wird. Einige sind auch einfach davon überzeugt, das Richtige zu tun.

    Das Absurde daran ist, dass diese Abfragen damit gerechtfertigt werden, dass man die Schüler*innen in solche Situationen bringen muss, die sie so schlimm finden und auf keinen Fall noch einmal erleben wollen, damit sie panisch den Hefteintrag für die nächste Stunde lernen. (Bei mir war es genauso und ich habe stundenlang Satz für Satz auswendig gelernt.) Die Lehrkraft ist dann stolz auf sich und denkt, jetzt hat sie ihre Aufgabe erfüllt und die Schüler*innen sind „gebildet“. Ich kenne auch Lehrkräfte, die daran zweifeln, ob es wirklich richtig ist, die Schüler*innen bei einer Abfrage in eine so schlimme Situation zu bringen, halten sich aber trotzdem an das gewohnte Abfrageritual. Oft wird auch der Aspekt der Gerechtigkeit vorgeschoben.

    Buchcover - Die Würde des Schülers ist antastbar

    Kurt Singer schreibt in seinem Buch „Die Würde des Schülers ist antastbar Vom Alltag in unseren Schulen – Und wie wir ihn verändern können“ so treffend: (Seite 51 ff)

    • «Ich muß doch gerecht sein gegenüber den anderen Schülern, und da muß ich dem Markus schlechte Noten geben.» Wirklich? Gibt es eine unbarmherzige Gerechtigkeit? Die Lehrerin: « Ich würde dem Jungen lieber keine Noten geben, aber wir haben nun einmal Noten, ich kann nicht über die Bestimmungen hinweg.» Wirklich nicht? Muß ich mich dazu bestimmen lassen, schwache Menschen zusätzlich zu verletzen? Oder gibt es solche Bestimmungen, weil wir unser Gewissen verstaatlichen lassen?
    • Lehrerinnen und Lehrer, die ihr Gewissen ausschalten, verleugnen häufig auch ihr Wissen. Sie gehorchen, statt moralisch zu entscheiden, sie geben Fähigkeit und Mut auf, sich ihres Verstandes zu bedienen. Sie unterdrücken ihr Mitgefühl, um dem Autoritätsdruck nachzugeben. Nicht nur das Gewissen, sondern die Kraft prüfenden Denkens wird ausgeschlossen. […]
    • Die Lehrerin läßt sich zum autoritätshörigen Verwaltungsobjekt herabwürdigen. Sie macht ihrerseits die ihr anvertrauten Kinder zum Verwaltungsobjekt. Das braucht sie nicht zu verantworten, denn sie hat ihr Gewissen der Obrigkeit übereignet und kann nun ein «gutes Gewissen» haben.

    Der Fehler ist im System

    Ich habe in diesem Text viele eigene Erfahrungen geschildert, um deutlich zu machen, wie es Schüler*innen in diesem Schulsystem mit einer Kultur des Selektierens und Bloßstellens geht. Es geht mir aber nicht darum, nur diejenigen Lehrkräfte zu kritisieren, deren Verhalten ich für pädagogisch völlig falsch halte. Das, was diese Lehrkräfte machen, ist systemisch legitimiert. Es ist erlaubt und wird in der Schule sogar als positiv angesehen, wenn eine Lehrkraft jede Stunde ein*e Schüler*in ausfragt, fleißig unangekündigte Tests (sogenannte Extemporalien, „Exen“) schreibt, die die Schüler*innen in ständige Panik versetzen und immer wieder einen langen Vortrag darüber hält, wie viele Schüler*innen hier in der Klasse sitzen, die eigentlich woanders viel besser aufgehoben wären. Ich könnte mich hier nicht bei der Schulleitung beschweren. An diesem Verhalten gibt es rechtlich gesehen kaum etwas problematisches. Deshalb geht es mir darum, aufzuzeigen, warum sich das Schulsystem grundlegend ändern muss.

    Die Normalisierung von Angst und Demütigung

    Warum wehren sich nicht alle Schüler*innen lautstark dagegen? Für viele ist das die Normalität. Angst, Demütigung und Bloßstellung gehören für uns ganz selbstverständlich zum Schulalltag dazu. Ich kenne viele, die denken, dass man daran nichts ändern kann. Für sie ist es einfacher, diesen Zustand als „naturgegeben“ zu akzeptieren, als ihn ständig in Frage zu stellen.

    Es gibt auch sehr viele Schüler*innen, die damit durchaus nicht zufrieden sind, aber in die Konfrontation mit der Schule und Lehrkraft zu gehen, ist dann doch zu riskant. Schließlich will man noch Chancen auf ein gutes Abitur oder Schulabschluss haben und nicht den ganzen zusätzlichen Stress. Die Chance, wirklich etwas am System zu ändern, scheint für viele außer Reichweite. Das muss sich ändern!

    Für ein menschliches Bildungssystem:
    Die Petition

    Autoritär-hierarchische Strukturen, bestehend aus Schulleitung – Lehrkraft – Schüler*in müssen überwunden werden. Statt Kontrolle und Wettbewerb brauchen wir Vertrauen und Zusammenarbeit. Eine positive Lernkultur, selbstbestimmtes Lernen und Gemeinschaft statt Selektion.

    Es kann nicht sein, dass tausende von Schüler*innen im 21. Jahrhundert immer noch unter Abfragen und Exen leiden. Deshalb unterstützen über 20 Organisationen und viele bekannte Einzelpersonen die Petition „Schluss mit Abfragen und Exen!“

    Unterstütze auch du die Petition zur Abschaffung unangekündigter Leistungsnachweise in Bayern.

    Das ist unsere Chance gemeinsam etwas zu verändern!

    Link zur Petition auf weAct

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