Erfahrungsbericht aus einer Schule für alle
Die Gemeinschaftsschule wird vielerorts als Heilsbringer begrüßt oder als sozialistischer Einheitsbrei verschrien. Ich arbeite an der ältesten Gemeinschaftsschule Deutschlands und versuche durch diesen kurzen Beitrag etwas Aufklärung zu leisten.
Ein Blogbeitrag von Ryan Plocher
Die älteste Gemeinschaftsschule Deutschlands
Die Fritz-Karsen-Schule wurde 1948 im amerikanischen Sektor Berlins als „Reform Einheitsschule“ gegründet. Über die Jahrzehnte wurde sie Gesamtschule und danach Gemeinschaftsschule, aber das Leitbild „Eine Schule für Alle“ begleitet uns seit Anfang an. Wir sind ebenfalls eine „Schule ohne Rassismus—Schule mit Courage“ und eine „Schule der Vielfalt—Schule ohne Homophobie“ und arbeiten inklusiv. Unsere Schule in Berlin-Britz, ein Ortsteil im Süden Neuköllns, bietet die Klassen 1 bis 13 an und hat ungefähr 1200 Schüler*innen. Die Klassen 1 bis 3 und 4-6 werden jahrgangsübergreifend und ohne Noten unterrichtet, die Klassen 7 bis 10 jahrgangshomogen, mit Noten, und ohne äußerliche Leistungsdifferenzierung. In Berlin gibt es an den gymnasialen Oberstufen an Nicht-Gymnasien noch die 11. Klasse als „Einführungsphase,“ insofern ist die Oberstufe bei uns dreijährig. Ich unterrichte ab der 5. Klasse und führe momentan eine 10. Klasse. In meinen Klassen gibt es im Durchschnitt vier Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf, und die Durchschnittsklassengröße ist 24.
Was macht die Gemeinschaftsschule aus?
Die Gemeinschaftsschule ist nicht zwangsläufig eine Reformschule, wo man den allerneusten didaktischen Trends nachrennt. Die Schulform bestimmt nicht die methodisch-didaktischen Entscheidungen der Pädagog*innen. Ich unterrichte mit einer Mischung aus Methoden, je nach dem Bedarf der jeweiligen Lerngruppen.
Die Gemeinschaftsschule wird vor allem durch die heterogene Schülerschaft bestimmt. Die meisten Schüler*innen von unserer Grundstufe bleiben an der Schule und wachsen hoch, aber sie werden eben nicht selektiert. Im Vergleich zu einem Gymnasium können wir niemanden ausschließen oder wegberaten. Im Vergleich zu Haupt- oder Realschulen können auch Spätzünder noch das Abitur erreichen. Kein Kind muss den vertrauten Freundeskreis verlassen, um einen besseren Schulabschluss zu erreichen; kein Kind muss bereits in der 4. Klasse die „richtigen“ Eltern haben. Auch Kinder mit den „falschen“ Eltern erreichen regelmäßig bei uns Abitur.
Im Vergleich mit anderen Berliner Bezirken gibt es noch in Neukölln Förderzentren (Sonderschulen). Insofern stattet uns der Schulträger erst langsam mit der notwendigen Infrastruktur für eine inklusive Beschulung aus—der Fahrstuhl wurde erst dieses Jahr in Betrieb genommen. Kinder und Jugendliche, die eine 1-zu-1 Betreuung brauchen, gibt es bei uns nur selten, denn hierfür sind wir nicht ausreichend personell ausgestattet.
Wie sieht der Alltag aus?
In meinem Unterricht differenziere ich nach den Bedürfnissen der Schüler*innen. Leistung ist hier nur eine relevante Kategorie. Ich denke auch mit, wie lange sie sich konzentrieren können, inwiefern sie in Gruppen arbeiten können, wie gesprächig sie sind, und viele andere Aspekte, je nach Aufgabe. Für die Schüler*innen mit Förderbedarf arbeite ich eng mit dem Sonderpädagogen meines Jahrgangs gemeinsam. Im Jahrgang arbeiten wir auch in Fachteams. So kann ich als Politikwissenschaftler auch erfolgreich Erdkunde oder Ethik unterrichten.
In Berlin werden Lehrkräfte nur noch für die Sekundarstufen I und II (Klassen 7 bis 13) oder für die Grundstufe (1 bis 6) ausgebildet, insofern wurde ich für die Differenzierung nach oben und unten ausgebildet.
Mein Kind soll studieren, wieso nicht Gymnasium?
An der Gemeinschaftsschule macht jedes Kind die für unsere Demokratie entscheidend wichtige Erfahrung der Heterogenität. Sie lernen mit und voneinander. Niemand wird per Schulform ausgeschlossen.
Jenseits des demokratischen Idealismus gibt es praktische Gründe: An der Gemeinschaftsschule kann man Unbekanntes wagen und Neues ausprobieren, ohne die Angst, aufgrund einer schlechten Note die Schule verlassen zu müssen. Falls Französisch doch die falsche Wahl einer zweiten Fremdsprache war, kann man zu Spanisch ohne Nachteile wechseln und noch Abitur bekommen. Man kann in der 11. Klasse ins Ausland gehen und mit der gleichen Lerngruppe Abitur machen. Der Lernstoff der 11. Klasse wird eben nicht in die 10. hineingezwängt. Und auch Kinder aus bildungsbürgerlichen Haushalten profitieren von der Berufsorientierung, die aufgrund des inhaltlichen Drucks am Gymnasium oft weggelassen wird.
Ein Wort an die Politik
Die Gemeinschaftsschule ist die effizienteste Schulform. Wieso nach einer Grundschule gleich mehrere Sekundarschulen bauen, wenn eine Gemeinschaftsschule reicht? Größere Schulen haben größere (oder überhaupt) Vertretungsreserven, und nicht nur an Pädagog*innen, sondern auch Sekretär*innen oder Hausmeister*innen. An unserer Schule wird es schwierig, wenn ein Kollege im Sekretariat erkrankt, aber die Schule fällt nicht zusammen. Die Langzeiterkrankung Weniger können große Schulen verkraften und bricht kleinen Schulen das Genick. Weiter kann man die Form der Gemeinschaftsschule auch nutzen, um eine Dorfgemeinschaft noch zusammenzuhalten. Wieso ewig in die Stadt zur Sekundarschule fahren, wenn man noch daheim Abitur machen kann? Nicht jeder Abiturient braucht Abitur in Philosophie und Latein, oft reichen Mathe und Englisch.
Alles eine heile Welt?
Auch an einer Gemeinschaftsschule gibt es Frustration. Schuldistanz und Armut sind in Neukölln große Herausforderungen. Hier gibt es nach Jahren des Sparens eben nicht die notwenigen räumlichen oder personellen Ressourcen, um alle Schüler*innen aus bildungsfernen Familien an die Schule zu binden. Allerdings hat hier die Gemeinschaftsschule den Vorteil, dass die Klassen gemischt sind. Ich habe nur wenige „Sozialfälle,“ dafür auch wenige Schüler*innen, für die ich Empfehlungen für Stipendien schreibe und an Sommerakademien für Hochbegabte schicke. Sie kommen nicht unbedingt aus wohlhabenden Haushalten, und einige sind bereits vom Gymnasium geflogen. An einer Hauptschule wäre ich eher Sozialarbeiter als Lehrer. Die Heterogenität macht meine Arbeit eben leichter aber nur wegen unserer Schulkultur der Zusammenarbeit.
Trotzdem wünsche ich mir eine bessere räumliche Ausstattung, mehr Personal in den Jugendämtern, mehr nichtpädagogisches Personal an den Schulen und insgesamt eine Schulpolitik, die es mir erlaubt, endlich mich auf den Unterricht zu konzentrieren, und nicht nebenberuflich Reiseleiter, Sozialarbeiter, Polizist, Security, Berufsberater und Krankenpfleger zu sein. Hier muss ich anmerken, dass die Ämterhäufung einer Lehrkraft auch an anderen Schulformen vorkommt.
„Bruchlose Erziehung“
Der erste Schulleiter meiner Schule, Fritz Hoffmann, sprach von der Notwendigkeit einer „bruchlosen Erziehung.“ Die Anbindung der Grundschule und Sekundarschule macht im Alltag der Eltern und der Pädagog*innen sehr viel aus. Ich unterrichte jetzt in der Grundschule die Klasse, die ich später in der Sekundarstufe leite. Fragen der sonderpädagogischen Förderung oder anderen Besonderheiten des Kindes können über einen sehr kurzen Dienstweg geklärt werden. Es gibt kaum Übergänge und keine Bewerbung an überfüllten Schulen, sondern nur einen Gebäudewechsel. Wichtiger jedoch ist es, dass die Kinder und Jugendlichen bei uns ein zweites Zuhause finden, was sich nur über Jahre hinweg entwickeln kann. Das sieht man am besten jedes Jahr bei der Abiturverleihung: An der Hand führen Erstklässler*innen die Abiturient*innen in die gemeinsame Aula—ein Bild, was ich mir auch für Bayern wünsche.
Ryan Plocher
unterrichtet Englisch und die Gesellschaftswissenschaften an der Fritz-Karsen-Schule seit 2014. Über seine Erfahrung an der Gemeinschaftsschule hat er unter anderem in der ZEIT (>>Link zum Videobeitrag) und in der Fachzeitschrift PÄDAGOGIK berichtet. Er war 2017-2019 Bundesjugendsprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.