„Ein hörendes Herz“:
    Bildung als Schlüssel zur Menschlichkeit

    Ein Beitrag von Tim Wiegelmann. Mehr zu Tim findet Ihr z.B. auf LinkedIn und Instagram

    „Ich bin Tim, 19 Jahre alt.  Aufgrund meiner Körperbehinderung konnte ich nochmal aus einer ganz anderen Perspektive erleben, was es bedeutet, in einem System zu sein, in dem die meisten Schüler*innen die Erfahrung machen, dass sie als Person nicht zählen. Doch vor allen Dingen wurde mir klar, dass „behindert sein“ oft nur „behindert werden“ ist.  Deswegen möchte ich nun nicht mehr leise sein!“

    „Ein hörendes Herz“: Bildung als Schlüssel zur Menschlichkeit

    Am 1. September 2024 werde ich meinen 20. Geburtstag feiern. Ich werde mein zweites Jahrzehnt auf diesem Planeten abschließen. Aber leider werde ich diesen besonderen, diesen feierlichen Tag nicht genießen können, wenn Sie wissen, was am 1. September in Thüringen passiert. Ich habe Angst vor dem, was kommen wird, tiefe, tiefe Angst. Und ich versuche, mir die Hoffnung zu bewahren, dass wir es schaffen, diese unendlich große Gefahr, von der wir uns alle nicht wirklich bewusst sind, wie nah sie ist, abzuwehren.

    Wir brauchen füreinander in dieser Welt ein hörendes Herz. Wie Hartmut Rosa sagt: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens.“1  Und wo soll ich dieses hörende Herz besser ausbilden können, als an jenem Ort, mit dem alle Kinder in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen?

    Daraus folgt: Bildung muss mir die Hoffnung schenken, wo immer ich bin und wann immer ich selbst zu klein für die Welt bin, auf ein hörendes Herz zu treffen.

    Aber es gibt noch eine zweite Hoffnung, die mir Bildung schenken sollte: die Hoffnung, dass dann, wenn ich merke, dass andere zu klein für die Welt sind, ich ebenfalls ein hörendes Herz für sie sein kann.

    Ich bin mein ganzes Leben lang schon auf einen Rollstuhl angewiesen. In dieser Hinsicht zähle ich zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft. Deswegen habe ich besonders starke Angst vor dem, was nach dem 1. September auf uns zukommen könnte. Ich habe die Welt aber trotz allem als einen Ort kennengelernt, an dem ich immer darauf hoffen darf, auf ein hörendes Herz zu treffen. Und deswegen ist es mein größtes Anliegen, dass unsere Schulen alles tun, um unseren Kindern diese zwei Hoffnungen zu vermitteln: die Hoffnung, wann immer andere zu klein für die Welt sind, ein hörendes Herz für sie sein zu können, und die Hoffnung, immer auf ein hörendes Herz zu treffen, wenn man sich selbst zu klein für die Welt fühlt.

    Und ich frage mich, ob unsere Bildungseinrichtungen gerade dieser Ort sind. Ich habe meine ganz großen Zweifel, ob insbesondere unsere Schulen optimale Bedingungen schaffen, um ein hörendes Herz zu bilden?

    Denn es ist doch im Grunde ganz einfach: Um liebevoll mit dieser Welt, mit anderen Menschen, mit der Vielfalt des Lebendigen umzugehen, muss ich sie zuerst als liebenswert erleben. Und was für ein Ort könnte sich besser eignen, um die Welt als liebenswert zu erleben, als der Ort, mit dem alle Kinder in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen?

    Und deswegen sage ich: Eine humane Schule ist eine Voraussetzung für eine humane Welt! Eine humane Schule ist die Voraussetzung für eine Welt, in der man keine Angst haben muss, wenn man wie ich zu den schwächsten Gliedern dieser Gesellschaft gehört.

    Harald Welzer hat es kürzlich gesagt: „Der Grundgedanke einer modernen demokratischen Gesellschaft ist folgender:  Alle gehören dazu, wir finden euch alle super, wir wollen euch alle haben.“2

    Doch was tun unsere Schulen im Moment?

    Der Reformpädagoge Otto Herz hat einen Satz gesagt und dieser eine Satz beinhaltet aus meiner Sicht alles, was es zu unserem derzeitigen Schulsystem zu wissen gibt:

    „Würde VW so arbeiten wie die Schule? Also würde VW sagen, wir produzieren die Qualität der Autos jetzt normalverteilt? Wir produzieren wenige Autos sehr gut, wenige Autos sehr schlecht und die meisten Autos mittelmäßig. Dann könnte VW morgen Konkurs anmelden!“3

    Aber so arbeitet die Schule. Angebliche drei Intelligenzstufen nutzt sie, um Menschen zu selektieren, um Menschen voneinander zu trennen.

    Und die Kritiker*innen könnten jetzt sagen:

    „Ja, aber ich verstehe das Beispiel nicht. Eben damit VW nur die besten Autos bauen kann, brauchen sie doch auch die besten Mitarbeiter*innen.“

    Ja, natürlich, und im Berufsleben ist leider ein gewisses Maß an Selektion unumgänglich.  Wir alle wollen nur von den besten Anästhesist*innen operiert werden.  Aber, betrachtet man die Schule als einzelnes, in sich geschlossenes Unternehmen,  dessen Aufgabe es ist, in allen das Gefühl von „Wir finden euch alle  super, wir brauchen euch alle“ zu ankern, darf sie niemals selektieren, ja sie hat, indem sie selektiert, sogar ihren ganz grundlegenden Auftrag ad absurdum geführt.

    Und in Bezug auf mein Beispiel mit den Anästhesist*innen ist unbedingt noch anzumerken:  Wir wollen ja von keinen Anästhesist*innen operiert werden, die die Abschlussprüfung mit „4“ abgeschlossen haben! Aber in der Schule ist „4“ noch bestanden!

    Schüler zu sein bedeutet für mich in erster Linie, dass ich noch nicht IM Leben lernen darf, sondern noch FÜR das Leben lernen muss. Ich will aber IM Leben lernen dürfen. Und: wie soll ich überhaupt Lust darauf entwickeln können, für das Leben zu lernen, wenn ich zu diesem Leben gar keinen Zugang habe?

    Das war die Kerneinsicht von Otto Herz: „Im Leben lernen, im Lernen leben!“4

    Ich habe aktuell nur einen Hauptschulabschluss. Vielleicht mache ich noch ein Abitur. Dann würde ich einen sogenannten Bildungsaufstieg machen. Einen Bildungsaufstieg. Irgendwo müsste sich dieser ganz besondere Aufstieg doch dann bemerkbar machen. Könnte man dann ganz anders mit mir reden? Was für ein anderer Mensch wäre ich dann?

    Und diese Schule, die trennt in Aufsteiger und Absteiger, Gewinner und Verlierer, ist einer demokratischen Gesellschaft, wie wir sie sind, schlicht und einfach nicht würdig!

    Denn Schule ist ein Spiel, das ich nicht „gewinnen“ will, weil ich weiß, dass ich selbst dann, wenn ich „gewinne“, einiges verloren habe. Und wie soll ich mich über meinen Bildungsaufstieg freuen, wenn ich weiß, dass die ganze Logik von Bildungsaufstieg nur darauf beruht, dass andere hinter mir „zurückbleiben?“

    Einmal schrieb ich mitten im Unterricht und mit Tränen in den Augen diese Zeilen: „Die Welt ist groß, weit, bunt. Es gibt so viele geniale Menschen, so viel zu tun, zu entdecken und zu erleben. Doch vor dieser Welt steht ein Zaun, ein Zaun, der sich Schule nennt. Dieser Zaun trennt mich von der Welt, von anderen Menschen und sogar von mir selbst. Mit Abschlussprüfungen soll man diesen Zaun einreißen können, um hinter ihm wieder die tolle Landschaft zu sehen, um all das zu erblicken, was er einem versperrte. Das Einreißen dieses Zaunes nennen wir Bildung. Doch in Wirklichkeit ist es nur ein Kräftemessen. Wer ist stark genug, den Zaun einzureißen? Doch wer den Zaun nicht einzureißen schafft, der ist niemals selbst schuld. Schuld sind alle, die jemals auf die Idee gekommen sind, diesen Zaun zu errichten.“

    Ich will aber enden mit einer positiven Vision dessen, was Bildung für mich bedeutet: Es gibt beim Abitur den Begriff des Reifezeugnisses.  Ich habe mir diesen Begriff ganz naiv angeschaut und mich gefragt, was ist ein Reifezeugnis? Was müsste mich kennzeichnen, wenn ich eine Bildungseinrichtung verlasse? Ganz viele Reformpädagog*innen sagen: „Bildung muss mir zeigen, was ich will. Und was ich kann und wie ich das in der Welt einbringen kann.“ Und da habe ich gedacht: Klingt schön, aber klingt mir viel zu ich-zentriert.

    Also habe ich weiter überlegt.

    Und dann habe ich mich gefragt: Was wäre, wenn das wahre Reifezeugnis, was wäre, wenn die zentrale Erkenntnis, die ich bekommen müsste, wenn ich eine Bildungseinrichtung verlasse, diejenige ist, dass ich ein Mensch bin, der durch seine Art des In-der-Welt-Seins, dadurch, wie er mit anderen Menschen und allem, was lebt, umgeht, etwas zu verschenken hat. Was wäre, wenn das das wahre Reifezeugnis wäre?

    Dass ich, wenn ich eine Bildungseinrichtung verlasse, mich als einen Menschen betrachte, der etwas zu verschenken hat. Was wäre, wenn das das ist, worauf es wirklich ankäme? Wenn jeder junge Mensch mit der Überzeugung aus der Schule gehen würde, dass er der Welt etwas zu schenken und zu geben hat? Dann würde ich blühende Zeiten für unsere Demokratie sehen, um deren Fortbestand ich gerade sehr viel Angst habe!

    Quellen

    1. Rosa, Hartmut: Demokratie braucht Religion: Mit einem Vorwort von Gregor Gysi (S.55). Kösel-Verlag, 2022. Kindle-Version.
    2. Hotel Matze: Harald Welzer über die Distanz zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürger (8:08 – 8:23), https://www.youtube.com/watch?v=udanvyGQp1M&t  veröffentlicht am 8. 9. 2023, zuletzt abgerufen am 21. 5. 2024).
    3. Forikolo e.V. – Schulen für Sierra Leone: Otto Herz – Reformpädagogik: (9:30 – 9:55) https://www.youtube.com/watch?v=Hg64LmMDfAE (veröffentlicht am 6. 4. 2015, zuletzt abgerufen am 21. 5. 2024).
    4. Siehe hierzu die Homepage von Otto Herz: http://otto-herz.de/ (zuletzt abgerufen am 21. 5. 2024).

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