Die Grundschule von der Auslesefunktion befreien
Zwei aktuelle Gutachten stellen sich gegen bildungspolitische und gymnasiale Bestrebungen, den kinder- und inklusionsfeindlichen Selektionsdruck in der Grundschule zu erhöhen.
Ein Artikel von Dr. Brigitte Schumann. Dieser Beitrag erschien zu erst auf der Seite bildungsklick.de
Das 2020 veröffentlichte Gutachten des Grundschulverbandes (GSV) zur Arbeitssituation in der Grundschule und die im gleichen Jahr veröffentlichte Abiturstudie der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) in NRW belegen, dass Selektionsinstrumente wie Benotung und Schulformempfehlungen Lehrkräfte belasten, als sichere Eignungsprognose für eine weiterführende Schulform untauglich sind, wohl aber Kinder beschädigen und benachteiligen.
In der pädagogischen Forschung sind diese Erkenntnisse nicht neu. Sie werden jedoch hartnäckig von konservativer und gymnasialer Seite geleugnet. Ziffernnoten und darauf basierende verbindliche Schulformempfehlungen gelten als unerlässliches Instrumentarium für eine angeblich begabungsgerechte Auslese in der Grundschule. In Baden-Württemberg ist dies zu einem Streitthema im Landtagswahlkampf geworden.
Gymnasialer Druck
Erheblichen Druck für eine strenge notenbezogene Auslese in der Grundschule macht der Philologenverband als gymnasiale Interessenvertretung. Dem Verband ist ein Dorn im Auge, dass in zwölf Bundesländern die Eltern in eigener Verantwortung sich über die zwar förmlich erteilte, aber unverbindliche Schulformempfehlung der Grundschule mit der sogenannten. freien Schulwahl hinwegsetzen können. Die Verbindlichkeit der Schulformempfehlung gilt nur noch in Bayern, Brandenburg und Thüringen. Regelmäßig kritisiert der Verband die Beliebigkeit der Elternwahl und beklagt die zunehmende Zahl der „überforderten“ Schülerinnen und Schüler am Gymnasium. Mit der Wiederherstellung der verbindlichen Schulformempfehlung soll die „passende“ Schulwahl gesichert werden, was im Umkehrschluss wohl bedeuten soll, dass dann nur die „passenden“ Kinder zum Gymnasium kommen.
Baden-Württemberg hat 2012 die Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen unter einer grün-roten Landesregierung abgeschafft und damit den Eltern das Recht zugebilligt, auch gegen die förmliche Empfehlung der Grundschule die Schulform für ihr Kind zu bestimmen. In der grün-schwarzen Koalition versucht die christdemokratische Kultusministerin und Spitzenkandidatin der CDU in der bevorstehenden Landtagswahl, mit ihrer Kritik an dem Übergangsverfahren gegen den amtierenden Grünen Ministerpräsidenten zu punkten. Sie kann sich des Beifalls seitens des Philologenverbandes und des Realschullehreverbandes sicher sein.
Eisenmann hat ein umfassendes Gesamtkonzept für den Übergang angekündigt. „Es soll die Verbindlichkeit stärken, die Beratung ausbauen und wir brauchen eine durchgängige Beobachtung des einzelnen Schülers“, so die Kultusministerin in den Stuttgarter Nachrichten. Es ist kein Geheimnis, dass die Ministerin damit auf die Verschlechterung der Leistungsergebnisse an Gymnasien in ihrem Bundesland reagiert, die sie offensichtlich wie der Philologenverband auf die falsche Elternwahl zurückführt. Sie ignoriert die Lehre aus der Pandemie, dass unser Schulsystem zutiefst ungerecht ist und diesem Mangel erst recht nicht mit verschärfter Leistungsselektion beizukommen ist.
Das Gutachten des Grundschulverbandes
Das arbeitswissenschaftliche Gutachten zur Erfassung der Arbeitssituation und -belastung an Grundschulen ist von dem Institut für Interdisziplinäre Schulforschung (ISF) im Auftrag des Grundschulverbandes erstellt worden. Die Ergebnisse basieren auf einer Befragung von 12 Grundschulkollegien in Bremen, Bayern und Nordrhein-Westfalen und den ausgewerteten Antworten von 239 Lehrerinnen und Lehrern.
„Absoluter Spitzenreiter sowohl bei den psychischen als auch zeitlichen Belastungswahrnehmungen ist der Komplex der Notengebung und der Leistungseinordnung“, lautet das zentrale Ergebnis der Gutachter, während die Tätigkeit des Korrigierens ohne Notenzwang als eher wenig belastend erlebt wird.
Spätestens ab Klasse 3 wirft die selektierende Schulformempfehlung ihren Schatten auf die pädagogische Arbeitssituation und auf das Verhältnis zu den Eltern. Die Anspruchshaltung bestimmter Eltern der Mittelschichten, für die nur eine gymnasiale Empfehlung in Frage kommt und die schon ab Klasse 1 die Hochbegabung ihres Kindes anerkannt wissen wollen, sorgt für viel Konfliktstoff. Da das Gutachten nicht zwischen verbindlichen Schulformempfehlungen (wie in Bayern) und unverbindlichen (wie in Bremen und Nordrhein-Westfalen) unterscheidet, ist anzunehmen, dass beide Varianten Grundschullehrkräfte stark unter Elterndruck setzen.
Insgesamt konstatiert das Gutachten, dass Grundschullehrerinnen und -lehrer sich in einem äußerst belastenden Dilemma befinden. Sie nehmen wahr, dass ihre pädagogische Kernaufgabe, allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden, durch bürokratisch verordnete Lernstandsermittlungen verdrängt wird. Für sie zählt die reale Leistungsentwicklung des einzelnen Kindes, aber messen müssen sie den Grad der Aneignung von zentral fixierten Leistungsbereichen, die zudem eindeutig schichtenspezifisch geprägt sind“ Dabei werden die vielfältigen durch kulturelle und soziale Unterschiede geprägten Kompetenzen der Kinder ausgeblendet. „Verschärft wird diese Situation durch den politisch postulierten inklusiven Unterricht, der in einer auf Auslese ausgerichteten pädagogischen Arbeit erfolgen soll“, so die Gutachter.
Die Wissenschaftler empfehlen unter anderem .die Abschaffung der Notengebung, des Zwangs zur Leistungseinordnung, der „destruktiven Testeritis“ und stattdessen wertschätzende Formen der Lern- und Leistungsdokumentation in der Grundschule. Damit die Schule die „heutigen Kinder auf eine Gesellschaft der Zukunft“ vorbereiten kann, braucht es aus ihrer Sicht eine Neuausrichtung der Ziele von Schule, ihrer Organisation und Struktur. Die Aufteilung nach Klasse 4 entspricht nicht dem Grundverständnis einer demokratischen, plural ausgerichteten Gesellschaft und hat gravierende negative Folgen für Kinder und Lehrkräfte.
Die Abiturstudie der GGG in NRW
Die Untauglichkeit der Schulformempfehlungen als sichere Eignungsprognose für eine Schulform hat die GGG mit ihrer Abiturstudie des Abiturientenjahrgangs 2020 nachgewiesen und damit Ergebnisse aus der Vorläuferstudie des Jahrgangs 2009 deutlich bestätigt.
Nur 21% der untersuchten 6778 Abiturientinnen und Abiturienten von 96 Gesamtschulen aus allen Regierungsbezirken haben das Abitur 2020 mit einer Gymnasialempfehlung ihrer Grundschule abgelegt, während 79 % entgegen der Empfehlung ihrer Grundschule das Abitur bestanden haben. Die GGG spricht von einer noch deutlicheren Fehleinschätzung der Grundschulen bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Lediglich 11 % von ihnen können eine Gymnasialempfehlung vorweisen, 89 % haben mit einer Empfehlung für Haupt- oder Realschule das Abitur abgelegt. Besondere Leistungen erbringen Gesamtschulen an besonders sozial herausfordernden Standorten. Mit einer geringen Quote an Gymnasialempfohlenen von 13 % haben sie 2020 ihre Schülerinnen und Schüler zum Abitur geführt.
Fast die Hälfte der 910 Schulformwechslerinnen und -wechsler von Gymnasien zu Gesamtschulen haben dort 2020 das Abitur abgelegt. Man kann davon ausgehen, dass in der Regel der Schulformwechsel vom Gymnasium zu einer anderen weiterführenden Schule durch Abschulung erzwungen wird, so dass es sich bei dieser Gruppe um Schülerinnen und Schüler handelt, die das Gymnasium als ungeeignet für den gymnasialen Bildungsgang „abgeschrieben“ hatte.
Die GGG kritisiert, dass die Grundschulempfehlungen mit ihrem fragwürdigen Prognosewert Kinder aus nicht privilegierten Verhältnissen benachteiligen. Auch IGLU-Studien haben mehrfach nachgewiesen, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Familien sehr viel bessere Leistungen erbringen müssen als Kinder aus privilegierten Verhältnissen, um die Eignung für das Gymnasium attestiert zu bekommen.
Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Grundschullehrkräfte bei ihrer Prognose nicht bewusst diskriminieren, sondern Kinder mit großen Differenzen zwischen ihrer herkunftsbedingten Ausgangslage und dem gymnasialen Habitus vor Misserfolgen und dem Scheitern im und am Gymnasium bewahren möchten, so ändert das nichts daran, dass diese Kinder objektiv benachteiligt werden. Anders ausgedrückt: Das Gymnasium, das sich institutionell erlauben darf, die „passenden“ Kinder auszusuchen und die „unpassenden“ abzuschulen, begründet das Prognoseverhalten der Grundschullehrerinnen und-lehrer.
Die GGG fordert als Konsequenz aus der Studie die Abschaffung der Schulformempfehlungen, das Abschulungsverbot für Gymnasien und Realschulen „in Verbindung mit der rechtlichen Möglichkeit, auch an diesen Schulformen alle Schulabschlüsse zu erwerben“ und „die Weiterentwicklung des Schulsystems hin zu der einen Schule für alle mit den Klasse 1-13 – beispielsweise durch eine schrittwiese Annäherung der Profile aller Schulformen in NRW“.
Dr. Brigitte Schumann RSS-Feed
Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von NRW. Der Titel ihrer Dissertation lautete: „Ich schäme mich ja so!“ – Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“ (Bad Heilbrunn 2007). Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.