Bildung braucht Demokratie
Bildung braucht Demokratie!
Beobachtungen zum Auftritt von Kultusminister Prof. Dr. Michael Piazolo bei der Hauptversammlung des Bayerischen Philologenverbandes
Bei der diesjährigen Hauptversammlung des Bayerischen Philologenverbandes sprach der neue bayerische Kultusminister Prof. Dr. Michael Piazolo über das Thema „Demokratie braucht Bildung!“. In der Stellungnahme seines Ministeriums wird aus unserer Sicht Demokratie an staatlichen Schulen zu positiv dargestellt. Piazolo meint, dass Demokratie gymnasiale Bildung brauche, da diese Form der Bildung in ihrem Kern auf die Idee der Demokratie ausgerichtet sei. In zweierlei Hinsicht ist dies ein problematisches Statement: Es verkennt einerseits die Geschichte des deutschen Gymnasiums, das im 19. Jahrhundert und auch während des Nationalsozialismus, in Teilen bis hin zu den Reformanstößen der 68er-Bewegung, alles andere als auf die „Idee der Demokratie ausgerichtet“ war. Erziehungsziel im Kaiserreich war es, den „braven“, d.h. kaiser- und königstreuen Untertanen zu erziehen. Zwischen 1933 und 1945 zielte das Gymnasium dann auf eine bedingungslose Treue zum Führer im Rahmen eines rassistischen Weltbildes ab. Heinrich Bölls Nachkriegs-Kurzgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa…“ zeigt etwa eindrücklich, wie leicht es gelang, den gymnasialen Bildungskanon für nationalsozialistische Zwecke zu instrumentalisieren und wie bereitwillig viele Lehrer dabei mitmachten. Erst durch den Protest junger Studenten und Schüler in den 1960er Jahren wurde die Demokratieerziehung, wie sie in der bayerischen Verfassung vorgesehen ist, ernst genommen.
Piazolos Statement ist aber noch in einer zweiten Hinsicht problematisch: Was ist mit Realschulen, Mittelschulen, Förderschulen…? Auch wenn man vor dem Philologenverband spricht, stellt sich uns die Frage: Bekommen die Schüler in anderen Schulformen keine demokratische Bildung?
Der Besuch eines Gymnasiums stärke laut Aussage des Ministers außerdem „das Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen.“ Was heißt das? Wie soll das konkret bewerkstelligt werden? Welche besondere Verantwortung übernehmen Schüler im Gymnasium? De facto trägt die doch der Lehrer, der vor der Klasse steht. Der Lehrer entscheidet darüber wie der Lehrplan umgesetzt wird, welche Methoden angewendet werden, was vertieft wird und was nicht. Echte Verantwortung übernehmen hieße aber, dass der einzelne Schüler wesentlich stärker sein eigenes Lernen steuern würde. Es hieße beispielsweise Projektlernen, auch in Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern. Es hieße, wie es z.B. die Bildungsmanufaktur Riesenklein in Halle an der Saale vorsieht, eine Schülerfirma zu gründen und den Schülern dazu ausreichend Zeit und Mittel zur Verfügung zu stellen. Es hieße, wie es z.B. die Montessorischule Dietramszell macht, Jugendliche sechs Wochen lang und zusammen mit Lehrern ein kleines Bauernhaus bewirtschaften zu lassen. Ein in der gymnasialen Oberstufe von oben verordnetes „Angebot“ von sog. P(rojekt)-Seminaren (kann man ein echtes Angebot nicht immer auch ablehnen?!) kann da bei weitem nicht mithalten und bildet nur ein Feigenblatt für das fehlende Vertrauen und die fehlende Verantwortung, die man den Schülern übertragen müsste.
Auch wie das Gymnasium „zur Entwicklung von selbstbestimmten und mündigen Persönlichkeiten“ beitragen soll, wird in der Stellungnahme des Ministeriums nicht genauer erläutert. Aus unser Sicht stellt es sich so dar: Selbstbestimmung wird im staatlichen Schulsystem nicht groß, sondern sehr klein geschrieben. Geschätzt 80% der Zeit verbringen Schüler auf der Schulbank, wo sie weder direkten Einfluss auf die allgemeingültigen Regeln des Zusammenlebens noch
auf ihr Lernen haben. Demokratische Werte werden an staatlichen Schulen eben nicht „gefördert, gelebt und gepflegt“, wie Prof. Dr. Piazolo meint. Als Beispiel nennt er das, was immer sofort reflexhaft genannt wird: „das Engagement der Kinder und Jugendlichen in der SMV oder bei der Wahl der Klassen- oder Schülersprecher.“ Der Klassensprecher aber wird i.d.R. einmal im Jahr gewählt. Damit erschöpft sich das Thema Demokratie für den ganz normalen Schüler. Die Klassensprecher wählen dann den Schülersprecher. Und die SMV tritt im Leben der meisten Schüler ebenfalls kaum in Erscheinung – von der Organisation von Schulpartys einmal abgesehen.
Nein, von echter und gelebter Demokratie, wie es sog. Demokratische Schulen (wie z.B. die Kapriole Freiburg) mit Erfolg praktizieren, ist das staatliche Schulsystem und mit ihm das Gymnasium noch weit entfernt. Echte Demokratie nimmt die Bürger, in dem Fall die Schüler, ernst und auf Augenhöhe wahr. Echte Demokratie würde bedeuten, dass Schüler mit wesentlich mehr und echter Verantwortung selbstbestimmt leben und lernen dürften. Die von Piazolo hervorgehobene Mündigkeit und Selbstbestimmung wird durch die Notenvergabe dagegen geradezu verhindert – einer Notenvergabe, von der wir seit vielen Jahrzehnten wissen, dass sie niemals objektiv sein kann. Statt permanenter Fremdeinschätzung müssen Kinder und Jugendliche lernen, sich selbst einzuschätzen. Die eigenen Stärken und Schwächen erkennen sowie Selbstwirksamkeit zu erfahren braucht aber Zeit und Vertrauen in junge Menschen – nicht ständige Kontrolle und fehlerfixierte Bewertung von oben herab. So trägt das Gymnasium, nicht in seinen Zielen und Inhalten, sehr wohl aber durch seine Methoden und durch seine Organisationsform, ganz stark dazu bei, dass viele Schüler eben nicht zu leidenschaftlichen Demokraten heranwachsen, sondern – wie es der Neurobiologe Gerald Hüther einmal formulierte – zu „leidenschaftslos gewordenen Pflichterfüllern“. Betrachtet man Lernen als das, was es ist, nämlich als Erfahrungsbildung, dann verhält es sich mit dem Demokratielernen wie mit dem Schwimmen: Es ist durchaus sinnvoll, sich mit der Theorie zu beschäftigen. Das Entscheidende ist am Ende aber die tägliche Praxis. Dementsprechend sollte es also nicht (nur) heißen „Demokratie braucht Bildung!“, sondern in erster Linie „Bildung braucht Demokratie!“
Eine Schule für alle in Bayern e.V.
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