12 Jahre ein Untertan?
Ein Blogbeitrag von Maike Plath
Der Film „12 Jahre ein Untertan?“:
Im vergangenen Jahr habe ich einen Dokumentarfilm gedreht, in dem ich unsere ehemaligen Spieler*innen Walid, Hala, Hussein, Olga und Sinan beim Anleiten ihrer eigenen Gruppen und Projekte begleitet habe. Anlass war die Auflage in unserem EU-Projekt «Resonanz» eine filmische Evaluation durchzuführen. Herausgekommen ist ein unterhaltsamer Dokumentarfilm über unsere fünf ACTeur*innen. Alle fünf sind seit Jahren Spieler*innen bei ACT e.V. (www.act-berlin.de). Walid, Hala und Hussein sind darüber hinaus auch ehemalige Schüler*innen von mir – noch aus Neuköllner Schulzeiten.
Im Rahmen des ACTeure-Programms sind die fünf im vergangenen Schuljahr in die Rolle der Lehrkraft gewechselt und leiten nun selbst Kinder und Jugendliche an. Im entstandenen Film „12 Jahre ein Untertan?“ erzählen sie auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen, was es ihrer Meinung nach braucht, wenn mensch ein*e gute Lehrer*in sein will. Sie haben sich die Fragen gestellt: Was bedeutet gute Führung? Was bedeutet „Menschliche Führung“?
Ihre Erfahrungen und Gedanken zum Thema „Lehrer*in sein“ werden darüber hinaus eingerahmt von Reflektionen verschiedener Jugendlicher und Erwachsener bei ACT e.V., die den Mut haben, anzusprechen, was ihnen beim Thema „Bildung“ ein ungemütliches Gefühl bereitet. Das klingt für manchen vielleicht erstmal wie Kritik am Bildungssystem, ist aber in Wahrheit hoffentlich der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (Zitat „Casablanca“), und vor allem:
Der Beginn eines emanzipatorischen Prozesses.
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft deshalb, weil dieser Film hoffentlich dazu ermutigt, gemeinsam und hoffnungsvoll über die Baustelle „Bildung“ zu sprechen. Denn ich nehme wahr, dass so viele Lehrkräfte und Schul-Beteiligte jeden Tag ihr Bestes, teilweise auch ihr Letztes geben, und einen wahnsinnig guten Job machen – und es trotzdem eine große Sehnsucht nach Veränderung, ja, nach Befreiung, gibt.
Deshalb ist es, glaube ich wichtig, dass wir uns nicht gegenseitig kritisieren bzw. uns in Schuldfragen verheddern – denn das erzeugt Frustrationen und eben gerade KEINE Motivation – sondern dass wir uns zusammentun und uns gemeinsam fragen: Was können wir realistisch verändern, damit es uns bessergeht?
Um das zu erreichen, brauchen wir Gleichwürdigkeit zwischen allen Beteiligten. Das System Schule ist aber auf struktureller Ebene noch immer von ungleichen Machtverhältnissen geprägt, unter denen wir alle leiden, sowohl die Jungen als auch die Erwachsenen. Was wir brauchen, ist ein Emanzipationsprozess aller an Bildung Beteiligten.
Was ist Emanzipation?
Emanzipation stammt von dem lateinischen emancipatio, was „Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt“ oder auch die „Freilassung eines Sklaven“ bedeutet.
Im 17./18. Jahrhundert erfolgte eine Bedeutungsverschiebung: Aus dem Akt des Gewährens von Selbstständigkeit wurde eine Aktion gesellschaftlicher und insbesondere politischer Selbstbefreiung (siehe auch Mündigkeit (Philosophie)). Neben die äußere tritt die innere Emanzipation: als Befreiung aus eigener Unmündigkeit und den Fesseln von Tradition, gesellschaftlichen Normen und vorgegebener Weltanschauung. Ziel emanzipatorischen Bestrebens ist ein Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit (im Sinne von Gleichberechtigung oder Gleichstellung), meist durch Kritik an Diskriminierung oder hegemonialen z. B. paternalistischen Strukturen, oder auch die Verringerung von z. B. seelischer, ökonomischer Abhängigkeit, etwa von den Eltern.
Wenn es um emanzipatorische Prozesse geht, braucht es Ich-Stärke: Also ein Gefühl für die eigenen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Grenzen und den Mut, zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen zu stehen, sie im Zweifel zu verteidigen – und den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.
Der bekannte Familientherapeut Jesper Juul nannte diese Ich-Stärke oder auch Treue zu sich selbst: Integrität. Und er hielt Integrität für die Grundvoraussetzung, damit wir Gleichwürdigkeit mit anderen leben können. Das möchte ich kurz erklären:
Jesper Juul hat für den Bereich der Elternerziehung den Begriff der „Gleichwürdigkeit“ geprägt, um deutlich zu machen, dass es bei der Erziehung von Kindern weder hilfreich ist, autoritär zu agieren, noch – vermeintlich demokratisch – ihnen alles durchgehen zu lassen.
Stattdessen sprach Juul von „autoritativer“ Erziehung auf der Basis einer gleichwürdigen Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Autoritativ bedeutet: Auf der Basis der eigenen Integrität und Werte und einem Bewusstsein für die eigenen Grenzen klar zu führen, in deutlicher Abgrenzung zum Dominieren oder Herrschen (hierarchisch), aber auch in klarer Abgrenzung zur antiautoritären Erziehung, denn jedes Kind braucht Führung.
Führung bedeutet bei Juul: Deutlich machen, was für mich selbst – als individueller Mensch – geht und was nicht, und genau das vorzuleben. Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennen und klar vertreten zu lernen, dabei aber immer die Grenzen und Bedürfnisse des Gegenübers als gleichwürdig zu betrachten und in einem ständigen, von Respekt getragenen Ausloten vorzuleben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und für die Situation.
Das Neue dabei war die Erkenntnis, dass es kein hierarchisches Verhältnis braucht und der Erwachsene nicht die „recht-habende-Instanz“ ist, sondern als Mensch vollkommen gleichwürdig mit dem Kind ist – und andererseits aber eben nicht völlig ohne Auftrag ist, also nicht „alles durchgehen lassen muss“, sondern stattdessen seine eigenen Grenzen und Bedürfnisse als Mensch offen thematisiert.
Die Aufgabe des Erwachsenen ist es quasi, Verantwortung für sich SELBST zu übernehmen, und dies in großer Klarheit und Authentizität vorzuleben, also auf der Basis der eigenen Integrität zu denken und zu handeln. Und nicht zuletzt: Sich selbst und anderen immer wieder „Fehler“ oder Rückschläge zu verzeihen. Denn nichts kann immer perfekt sein. Der Mensch schon gar nicht.
Integrität ist auch über das Erziehungsthema hinaus eine grundlegende Basis für gelingende, weil gleichwürdige Beziehungen. Denn nur, wer sich selbst kennt und den Mut aufbringt, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen anderen Menschen gegenüber offen und klar zu kommunizieren, entwickelt die Fähigkeit, andere Menschen in ihren Bedürfnissen und Grenzen zu respektieren und sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen.
Ich habe mich immer gefragt, warum dies Gedanken von Jesper Juul nicht in den Schulen angekommen sind. Denn aus meiner Sicht sind Integrität und Gleichwürdigkeit die zentralen Aspekte, die wir für eine zukunftsfähige Bildung benötigen. Warum?
Schauen wir kurz mal von oben auf die gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Situation:
Problem: Vertrauen in die Demokratie bröckelt und faschistische Positionen werden „salonfähig“
Wir haben derzeit das Problem, dass in großen Teilen der Gesellschaft das Vertrauen in die Demokratie schwindet. Gleichzeitig erleben wir, dass faschistisches Gedankengut wieder salonfähig wird, gar als „bürgerliche Position“ bezeichnet wird.
Geschichte wiederholt sich nicht, Denkmuster in den Köpfen aber schon
Das hatten wir in Deutschland schon einmal. Und ich weiß: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Muster in den Köpfen der Menschen sehr wohl. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass Muster sich wiederholen, wenn wir nicht ganz bewusst daran arbeiten, uns weiter zu entwickeln, um unbewusste, internalisierte Muster zu überwinden.
Welche gedanklichen Muster zum Faschismus führen, ist ausreichend analysiert worden. Das ist eigentlich alles bekannt. Die Frage ist, ob wir es als Gesellschaft jetzt schaffen, an diesen gedanklichen Mustern zu arbeiten und sie noch rechtzeitig überwinden, bevor größerer Schaden entsteht. Leider passiert diese Anstrengung auf politischer und auf medialer Ebene gerade NICHT, wenn beispielsweise eine Moderatorin die AFD als „bürgerliche Partei“ bezeichnet.
Nicht Menschen ausschließen, aber Handlungen und Haltungen, die die demokratischen Grundwerte langfristig zerstören
Es geht mir hier nicht darum, MENSCHEN auszuschließen. Aber Haltungen und Handlungen schon, wenn diese die Errungenschaften der Demokratie per se in Frage stellen: Wenn nämlich freies Denken, Gleichwürdigkeit, Vielfalt und nicht zuletzt die Würde des Menschen zur Disposition stehen. Solche Positionen können nicht mit dem Verweis auf demokratische Werte – wie z. B. Meinungsfreiheit – moralisch eingefordert werden. Das ist paradox, weil solche Gedanken in der Konsequenz alle demokratischen Werte und Haltungen – und damit die Demokratie an sich – unterlaufen und zerstören.
Weiterentwicklung unserer Demokratie bedeutet persönliche Emanzipation
Andererseits, ist schon klar: Unsere Demokratie ist noch nicht toll. Es muss noch vieles WEITER gedacht und weiterentwickelt, bestehende Ungerechtigkeiten behoben werden, aber das geht eben nur durch ein WEITER, eine bewusstere Durchdringung und konsequentere Anwendung demokratischer Werte – und eben nicht durch ein Zurück. (In angeblich frühere goldene Zeiten… welche eigentlich genau?).
Wie geht dieses „WEITER“?
Meine These ist: Demokratische Kernkompetenz kann bei jedem einzelnen Menschen nur durch einen anstrengenden persönlichen Emanzipationsprozess erreicht werden: Nämlich durch eine Befreiung von internalisiertem Gehorsam und Anpassungszwang.
Denn mir scheint ein unbewusstes verinnerlichtes Obrigkeitsdenken bei uns allen ein eingeimpftes Muster zu sein, das eine konstruktive Weiterentwicklung von Vielfalt und Demokratie verhindert.
Um demokratische Kernkompetenz zu verinnerlichen, müssen wir durch einen eigenen, persönlichen und individuellen Emanzipationsprozess
Es geht mir hier nicht um die eine, einzige RICHTIGE Haltung, sondern insgesamt um demokratische Kernkompetenz:
Nämlich um den Willen bzw. die Bereitschaft unterschiedliche Meinungen und Haltungen kennen zu lernen, zu respektieren und sich trotz aller Verschiedenheit und trotz manchmal unsicherer Gefühle menschlich gleichwürdig zu begegnen und das Gemeinsame konstruktiv zu versuchen. Das hört sich so schön und einfach an – aber ganz ehrlich:
Warum klappt es damit im Moment nicht so richtig – in Deutschland und anderswo?
Ich glaube: Wir sind zu sehr Untertanen im Geiste. Eine weiter entwickelte Demokratie erfordert aber freie, emanzipierte Menschen, die sich nicht ohnmächtig fühlen, sondern selbst Verantwortung übernehmen.
Was meine ich mit Untertanen-Haltung?
Der Verlust an Vertrauen in die demokratischen Grundwerte steht in direktem Zusammenhang mit einem Ohnmachtsgefühl, das sich beispielsweise in der Aussage – oder dem Gefühl – ausdrückt: „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen“ oder: „Ich als einzelner Mensch habe keinen Einfluss darauf, was im Ganzen passiert, ich alleine kann ja nichts machen – ich bin nur Opfer eines (ungerechten) Systems“.
Ich denke: Diese Ohnmachts-Haltung ist eine direkte Folge eines unreflektierten Obrigkeits- bzw. Gehorsamsdenken. Selbst wenn unbestritten Ungerechtigkeit herrscht und sehr viele Menschen ganz real durch unser System Ungleichheit und Herabsetzung erfahren, ist es ein Unterschied, ob ich daran glaube, dass ich durch mein Handeln einen Unterschied machen und die Entwicklungen mit beeinflussen kann (das wäre Selbstwirksamkeit), oder ob ich mich als Spielball der Umstände und Strukturen oder „höher gestellter Personen“ empfinde.
Sich selbst als Opfer der Umstände oder „höher gestellter Personen“ zu fühlen, selbst, wenn es zu 100 Prozent tatsächlich so ist, blockiert die Möglichkeit, zu handeln und macht eine Befreiung aus diesem Zustand unmöglich. Das macht die Sache doppelt schlimm.
Und noch ungerechter ist: Die Grundbedingung für eine emanzipatorische Selbstbefreiung, nämlich Selbstwert, Selbstwirksamkeit und soziale Anerkennung sind sehr ungleich und ungerecht verteilt. Darauf komme ich gleich noch einmal ausführlicher zurück.
Trotzdem: Das Fatale daran ist, dass eine innere Gehorsamshaltung, also das „Sich-Fügen“, weil ich „ja selbst nichts machen kann“, die Ohnmachtshaltung nur immer weiter verstärkt, egal, wie berechtigt sie ist. Sie spielt den Gegner*innen der Demokratie in die Hände.
Unsere „Untertanenhaltung“ verhindert, dass wir freie, mündige Menschen werden
In unserer derzeitigen gesellschaftlichen Situation halte ich es deswegen für zentral wichtig, diese internalisierte Gehorsamshaltung und in der Folge dieses Ohnmachtsgefühl zu überwinden.
Denn: Je mehr Menschen eine „Untertanenhaltung“ ausbilden, desto wackliger wird unsere Demokratie und desto salonfähiger werden gegenwärtig autoritäre und leider auch faschistische Positionen. Denn die Demokratie lebt eben NICHT von einigen wenigen, „die da oben gestalten“, sondern vom verantwortungsvollen Gestaltungswillen und -können der Vielen.
Eine Demokratie braucht Menschen, die auf ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen (Selbstwert), und darauf, dass sie die Gesellschaft aktiv auf der Basis dieser Fähigkeiten mitgestalten können (Selbstwirksamkeit). Kurz: Eine Demokratie braucht Menschen mit einem stark ausgebildeten Bewusstsein für die eigene Integrität. Ich-Stärke. Selbstwertgefühl.
Wo liegt die Ursache für unsere Untertanenhaltung?
Wie ist es zu erklären, dass derzeit so viele Menschen eine „Untertanen-Haltung“ ausgebildet haben? Die Ursache liegt zum einen darin, dass in Deutschland noch immer – unbewusst – eine Obrigkeitshaltung durch soziale Prägung internalisiert ist, und zum zweiten darin, dass diese Haltung durch Institutionen und Strukturen weiter verfestigt wird, statt sie gezielt und systematisch zu unterlaufen:
Wer selbst zur Anpassung erzogen wurde, ist in gewisser Weise immer von der Bewertung und Bestätigung durch den „inneren autoritären Vater“ abhängig – also durch die Anerkennung von „als „höher gestellt“ empfundenen Personen“.
Wir alle sind von diesem inneren autoritären Vater geprägt – nämlich von der weißen, männlichen, akademischen Perspektive, die seit sehr langer Zeit unsere gesellschaftlichen Strukturen prägt.
Es geht hier NICHT gegen die Männer. Es geht um den ganz natürlichen Vorgang, dass wir, die „pubertierenden Kinder“ erwachsen werden und uns von unseren „Eltern“ frei spielen, emanzipieren müssen. Wenn die Kinder selbständig und unabhängig von den Eltern werden, ist das für die Eltern IMMER ein Schmerz. So reagieren auch die weißen, akademischen Männer derzeit auf unsere emanzipatorischen Impulse: Sie sind nicht erfreut. Klar. Es fühlt sich stressig an. Pubertierende Kinder sind stressig und der Prozess bis zur eigenen Unabhängigkeit ist „ruckelig“ – aber GESUND. Die Erziehung der Eltern ist gelungen, wenn die Kinder selbständig und selbstbestimmt leben können und nicht mehr von ihnen abhängig sind. Dann ist der Prozess geglückt.
Es geht darum, zu verstehen, dass es über Jahrhunderte weiße, akademische Männer waren, die unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unser soziales Verhalten geprägt haben – und das ist eben nur EINE Perspektive auf die Welt – unter vielen anderen. Aber es ist DIE Perspektive, an der wir uns logischerweise ausrichten. Denn es ist der gedankliche Raum, in dem wir sozialisiert wurden. Und jetzt reicht diese eine Perspektive nicht mehr, um die gegenwärtigen Probleme zu lösen.
Wo spüren wir diese Abhängigkeit vom „inneren Vater“? Wo kommen wir in Konflikt mit unserer eigenen Integrität? Mit dem, was uns eigentlich ausmacht? Das erkennen wir selbst persönlich immer daran, wenn wir einen eigenen Impuls, einen Gedanken oder ein Gefühl unterdrücken – aus Angst, dass wir „peinlich“ sind, „dumm rüber kommen“, oder sonstwie abgewertet werden.
Diese innere Abhängigkeit von äußerer Bestätigung blockiert das Ausbilden unserer eigenen Integrität und unseres Selbstwertgefühls. Wenn mein Selbstwertgefühl vom Lob und der Anerkennung anderer abhängt (siehe auch Facebook und Instagram), verlerne ich die Fähigkeit, meine eigenen Bedürfnisse und Potentiale wahrzunehmen und diesen zu vertrauen. Ich verlerne es, frei vom Urteil anderer zu sein und verliere die Fähigkeit, Regie über mein eigenes Leben zu führen. Das tun dann andere. Und das war übrigens schon immer gefährlich (Filmbeispiel: Michael Hannecke, Das weiße Band).
Wir alle sind in gewisser Weise zur Anpassung sozialisiert worden und haben über Anpassung an die herrschende weiße, männliche, akademische Perspektive Anerkennung erfahren – oder Abwertung, wenn wir ihr nicht entsprochen haben – und insofern sind wir alle nicht frei vom internalisierten „inneren autoritären Vater“.
Emanzipatorische Prozesse sind grundsätzlich anstrengend und schmerzvoll – aber sie lohnen sich
Diese innere Abhängigkeit kann nur überwunden und Selbstbestimmung nur erreicht werden durch einen eigenen inneren emanzipatorischen Prozess, welcher grundsätzlich mit Kraftanstrengung und Schmerz verbunden ist.
Der emanzipatorische Akt besteht darin, sich von dieser inneren Abhängigkeit zu befreien und stattdessen die eigene Integrität zum Maßstab des Handelns zu machen.
Was sind die Grundvoraussetzungen für so einen emanzipatorischen Prozess, für ein Verlassen der Gehorsamshaltung zugunsten von Integrität, Mündigkeit und Selbstbestimmung?
Das auf den ersten Blick vielleicht erstaunliche ist, dass ein emanzipatorischer Prozess bei denjenigen am wahrscheinlichsten ist, bei denen der Schmerz durch Ausgrenzung am größten ist.
Denn: Wer „satt in der Mitte der herrschenden Norm sitzt“, ist häufig blind – sowohl für die eigenen als auch für die Bedürfnisse und Grenzen ANDERER Menschen, weil er für die eigenen Bedürfnisse nie wirklich ernsthaft kämpfen, nie wirklich – schmerzhaft – dafür einstehen musste.
Dabei wurde aber schleichend und oft unbewusst die eigene Integrität zugunsten der allgemeinen Anpassung an die herrschende Norm unterdrückt.
Deswegen sind es oft auch genau diejenigen, die KEINE ernsthafte Herabsetzung oder Ausgrenzung erfahren haben, die die Tatsache leugnen, dass die äußeren, gesellschaftlichen Start-Voraussetzungen für emanzipatorische Prozesse sehr ungleich verteilt sind. Auch ich konnte das erst sehr spät SEHEN.
Denn diejenigen, die sich innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Denkmuster ohne größere Opfer anpassen können, wie übrigens auch ich selbst, wissen erstmal nicht, was Freiheit IST, weil sie nie darum kämpfen mussten. Sie sind äußerlich eigentlich frei. Innerlich aber unfrei, weil sie unbewusst angepasst, unbewusst gehorsam sind und sich der eigenen, individuellen Wirksamkeit gar nicht bewusst. So ging es auch mir selber, bevor ich schockartig aus dieser Blase raus katapultiert wurde.
Tatsache ist: Die einen starten auf einer äußerlich, also gesellschaftlich vorteilhafteren Basis als die anderen. Diese Menschen – also WIR “weißen Kartoffeln” – hätten rein äußerlich beste Voraussetzungen zur Selbstbefreiung, nutzen sie aber nicht (oder zu selten), weil wir innerlich kein Bewusstsein für die eigene Integrität entwickelt haben:
Uns fehlt die Schmerzerfahrung wirklicher Ausgrenzung und deswegen können wir gar nicht SEHEN, was das Problem ist bzw. was ein emanzipatorischer Prozess für uns persönlich bedeuten könnte. Und deswegen sind wir innerlich unfrei. Und fühlen uns diffus ohnmächtig, obwohl wir es de facto nicht sind.
Die anderen erleben den Schmerz der Ausgrenzung so existentiell, dass sie quasi gezwungen sind, sich dazu zu verhalten. Entgegenhalten oder anpassen. Beides auf Kosten der eigenen Integrität. Dadurch entsteht spürbarer und unerträglicher Schmerz. Diese Menschen SEHEN das Problem also zwangsläufig, weil es gar nicht zu ignorieren ist. Sie sehen sowohl die systemische Seite, also das Problem im Außen, als auch spüren sie es im Innern.
Man könnte also sagen, sie hätten die „besseren inneren Startvoraussetzungen“ für einen emanzipatorischen Prozess, zumindest was Bewusstsein angeht, aber die äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen sind für sie unverhältnismäßig viel schwerer, als für diejenigen, die selten oder nie Ausgrenzung erleben mussten.
Die Voraussetzungen für emanzipatorische Prozesse und das zugrundeliegende Problem (der Satten auf der einen und der Rebellierenden auf der anderen Seite) werden nicht erkannt
In diesem Abgrund zwischen den Ausgangssituationen liegt das Drama begründet, das sich derzeit im Schulsystem – und weit darüber hinaus – abspielt:
Es gibt die „Satten, Blinden, Unbefreiten“, die sich ohnmächtig FÜHLEN, und die „Ausgegrenzten, Bewussten”, die ohnmächtig SIND und darum kämpfen, sich selbst zu befreien.
Mit diesen Befreiungs-Versuchen lösen sie Abwehr und Ängste bei den Satten aus, weil diese Emanzipations-Impulse die verdrängte Schattenseite der „Satten“ triggern.
Denn bei denen meldet sich dann sehr unangenehm das verdrängte Selbst.
Statt sich mit den Bewussten, mit den “Freiheits-Kämpfer*innen” zu verbünden, stellen sich die Satten reflexartig vor die herrschende Norm und verteidigen “bewusstlos” ihre „Burg“ und sehen gar nicht, dass diese, ihre Burg eigentlich ihr Gefängnis ist. Ein mentales Gefängnis, das sie zeitlebens in eine geduckte Anpassungshaltung zwingt.
Durch diesen Ohnmachts-Mechanismus, die Burg verteidigen zu “müssen”, werden die äußeren Bedingungen für die Ausgegrenzten wiederum noch weiter verschlechtert. Für die anderen – IN der Burg – aber auch. Denn glücklich ist mit diesem Zustand keiner. Weder draußen vor der Burg, noch in der Burg.
Deswegen ist es wahrscheinlich gerade so attraktiv, sich in eine vermeintlich goldene Vergangenheit zu flüchten und sich Augen und Ohren in Bezug auf die Zukunft zuzuhalten. Dabei müssten wir nur ALLE die Burg verlassen und draußen gemeinsam etwas Neues starten.
Settings, die Emanzipation begünstigen, zu erschaffen, ist zentrale Aufgabe von Bildung
Aber – ich bin hoffnungsvoll. Wie wir immer wieder sowohl aus Filmen (Billy Elliot, Harvey Milk, Forrest Gump) als auch aus eigener Erfahrung wissen:
Emanzipatorische Prozesse können – trotz aller benannten Probleme – von außen angestoßen, bzw. initiiert werden – durch andere Menschen und durch emanzipatorische Settings. Dadurch können ungleiche Startvoraussetzungen abgemildert und Ermächtigungsprozesse ermöglicht werden. Und genau das ist eigentlich Aufgabe von Bildung in einer Demokratie.
Ein emanzipatorischer Akt ist notwendig, um Selbstwert zu entwickeln und Selbstwirksamkeit zu erfahren und ein freier mündiger Mensch zu werden. Nur, wer die internalisierte Untertanen-Haltung überwindet, kann unsere Demokratie aktiv mitgestalten, Verantwortung übernehmen und (im Bildungsbereich und anderswo) in anderen Menschen emanzipatorische Prozesse initiieren.
Nur wer selbst frei ist, kann Freiheit in anderen ermöglichen.
Das Drama in Schulen ist die internalisierte Gehorsamshaltung
Das Drama derzeit ist, dass aber ausgerechnet unser Bildungssystem eine Gehorsamshaltung weiter verstärkt, statt ihr bewusst entgegen zu wirken. Trotz buntem, freundlichen, demokratisch erscheinenden äußerem Erscheinungsbild wirkt in unseren Schulen noch immer ein tief verwurzeltes Obrigkeitsdenken:
Die Lehrpersonen verweisen auf die „Anforderungen von oben“, die sie „erfüllen müssen“, weswegen sie ihren Beruf „nicht so ausüben können, wie sie es eigentlich wollen“. Das heißt übersetzt: Nicht die innere Integrität ist der Maßstab ihres Handelns, sondern die Anforderungen des „inneren autoritären Vaters“. Lieber die äußeren Anforderungen erfüllen und sich dadurch wie ein*e korrekte*r Pädagog*in fühlen, als die eigenen inneren Widerstände und Grenzen ernst zu nehmen und Veränderung zu initiieren.
Die Schüler*innen richten ihr gesamtes Handeln nach den Noten aus (Was muss ich tun, um eine Eins zu bekommen?) und die Eltern unterwerfen sich diesem Anpassungs-System trotz massiver persönlicher Zweifel aus einer diffusen Angst heraus, ihr Kind könnte ansonsten in dieser Welt nicht bestehen. Als hätten genau diese Kinder mit der Gestaltung der Welt nichts zu tun und wären bereits jetzt „Untertanen“, die sich eben der Welt unterordnen müssen, so wie sie jetzt ist. (!) Damit verbauen wir die einzige Chance, die wir auf eine andere, bessere Welt haben! Denn diese Kinder werden die zukünftige Gesellschaft gestalten!
Alle handeln auf der Grundlage von internalisiertem Gehorsam und unterstützen auf diese Weise ein Bildungs-System, das eigentlich niemand mehr will und das vor allem nicht zukunftsfähig ist.
Zusammengefasst: Fremdbestimmter Anpassungszwang, wie er in Schulen herrscht, blockiert das Ausbilden der eigenen Integrität und des eigenen Selbstwerts. Und wer selbst kein Gefühl für die eigene Integrität besitzt, wer selbst nicht frei ist, kann in anderen keinen Selbstwert erzeugen. Ein Mensch, der selbst nur folgt, erwartet, dass auch die anderen folgen, denn etwas anderes kennt er sie es nicht.
Menschen dagegen, die dem gesunden Impuls folgen, ihre Integrität zu verteidigen, werden als Störung oder gar als Bedrohung wahrgenommen. Kinder, die sich widersetzen, werden durch die Instrumente des Gehorsams: Belohnung, Bestrafung, Beschämung, Manipulation in die (Anpassungs-) Spur gebracht. Auf Kosten ihrer eigenen Integrität. Auf Kosten von wirklich gelebter Vielfalt. Auf Kosten von Gleichwürdigkeit und demokratischen Werten.
So läuft das Bildungssystem – mit seinen bunten fröhlichen Gruppentischen, gut gemeinten Demokratie-Plakaten an der Wand und dem (leeren) Versprechen von Vielfalt – in Wahrheit als große Untertanen-Produktionsmaschine immer weiter.
Das ist eine Katastrophe.
Was müssen wir tun?
Unsere wichtigsten Aufgaben sind es, erstens:
Anzuerkennen, dass die weiße, männliche, akademische Perspektive (also unser innerer „Vater“) noch immer unser Denken und unsere Sichtweise bestimmt und dass wir – sozialisiert mit dieser Perspektive – nicht frei sind von internalisiertem Gehorsam und Anpassungszwang.
Zweitens: Wir müssten trainieren, diese Perspektive weiträumig zu verlassen und stattdessen die Integrität aller in den Blick nehmen und stärken.
Drittens: Wir könnten Strategien entwickeln, wie wir emanzipatorische Prozesse konkret initiieren können. Dies gelingt erstens über Beziehung, zweitens über Beziehung, drittens über Beziehung.
Dafür brauchen wir Viertens: Klar ausformulierte Partizipationskonzepte, durch die Beziehungs- und Erfahrungsräume geschaffen werden, in denen Integrität und Gleichwürdigkeit als persönlicher Gewinn erfahren werden können und
fünftens brauchen wir eine transparente Vermittlung von Führungskompetenz. Das bedeutet Selbstführung und verantwortungsvolle Führung anderer.
Das Mischpultprinzip ist EIN konzeptioneller Vorschlag, wie diese emanzipatorische Reise gelingen kann. Es gibt noch viele andere. Aber auf den Weg machen müssen wir uns selbst.
Niemand kann befreit WERDEN. Wir müssen uns selbst befreien.
Und das ist auch mit Anstrengung und teilweise unwohlen Gefühlen verbunden:
Beim „Aufstieg aus der dunklen Höhle ins Licht nach draußen ist das blendende Sonnenlicht leider schmerzhaft“. Aber wer einmal draußen ist, wird diejenigen bemitleiden, die noch gefesselt unten in der Höhle – oder in der Burg – hocken und die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit halten.
Für mich hat das Höhlengleichnis von Platon eine besondere Bedeutung, weil ich diesen Stoff gleich zu Beginn meiner Zeit als Lehrerin an einer Hauptschule in Neukölln als Ausgangspunkt für eine biografische Stückentwicklung wählte und mir von vielen Leuten anhören musste, das „sei ja viel zu schwer für „diese“ Schüler*innen.
Als mir „meine“ Jugendlichen damals an der Anna-Siemsen-Hauptschule Neukölln ihre erste eigene Interpretation des Höhlengleichnis präsentierten, dachte ich: Wow. Und war fassungslos. Es war der Startpunkt für mein Nachdenken darüber, wie wir alle raus aus dieser Höhle kommen könnten…
Und das frage ich mich seitdem jeden Tag:
Was können wir tun, damit möglichst viele den Aufstieg wagen und ihn durchhalten?
Diese Frage halte ich für die entscheidende Frage unserer Zeit.
Sie lässt sich mit den Schritten und Phasen jeder großen Emanzipationsbewegung beantworten. Der einzelne Mensch erkennt, dass nicht er selbst das Problem ist, sondern das System, das ihn umgibt. Er macht sich „auf in die Stadt“, geht dahin, wo die anderen sind, die ebenfalls SEHEND geworden sind, um sich mit ihnen zu verbünden. Gemeinsam entsteht eine Bewegung, die im besten Falle Veränderungen zum Positiven bewirkt – langfristig für ALLE.
Jede Emanzipationsbewegung beginnt beim einzelnen Menschen. Bei dir. Willst du ein Opfer der Umstände und eine Untertanin oder Untertan sein oder eine Mutmacherin, Mutmacher für andere? Die Antwort liegt bei dir selbst.
Abschluss:
Deine persönliche emanzipatorische Challenge
Nimm dir für die nahe Zukunft EINE emanzipatorische Handlung vor. Eine kleine emanzipatorische „Challenge“, wo du dich mal gegen deinen “inneren Vater” durchsetzt. Ich gehe jetzt hier in Vorleistung:
Als ich diesen Text schrieb, dachte ich: Am Ende werde ich zur Inspiration, um über die eigene emanzipatorische „Challenge“ nachzudenken, das Musikstück “Read all about it” von Emile Sandé vorschlagen. Aber dann dachte ich: Das geht GAR NICHT! Das ist zu pathetisch, zu emotional. Dann nimmt keiner mehr ernst, was ich vorher geschrieben habe. Aber plötzlich kam mir dann die Erkenntnis: Das sind gar nicht MEINE Gedanken! Da ist sie: Die weiße, männliche Perspektive! ICH habe aber eine andere. Und ICH denke: Intelligente Gedanken sind auch MIT Gefühlen möglich! Sogar besser: Wir sollten die Gefühle endlich mit reinnehmen! Statt sie zu verdrängen und als etwas Minderwertiges zu betrachten. VERDRÄNGTE Gefühle sind nämlich das Problem, nicht die Tatsache, dass Menschen Gefühle HABEN. Wir sollten lernen, unsere Gefühle wahr zu nehmen, sie bewusst zu machen, darüber zu reden und sie mit unserem rationalen Denken zu verbinden.
Und: Wer sich von Musik manipuliert fühlt, kann ja meinen Vorschlag ignorieren und OHNE Musik über die eigene emanzipatorische Herausforderung nachdenken. Jeder kann ja jederzeit Veto einlegen. Auf welche Weise ihr über eure Challenge nachdenken wollt, ist ja allein eure Sache! Wenn ihr selbstbestimmte Menschen seid und ich offenlege, warum ich dieses Musikstück vorschlage, muss ich euch nicht unter Naturschutz stellen, so nach dem Motto: Oha, hoffentlich werden die jetzt nicht mit Haut und Haaren manipuliert! Ihr könnt selbst für euch sorgen.
Ihr könnt einfach selbst überlegen: Darf dieses Musikstück im selben Raum sein wie ich, wenn ich über meine Emanzipations-Challenge nachdenke? Und DÜRFEN auch Gefühle hochkommen – und sind dann trotzdem klare kluge Gedanken möglich?
Oder ist es nur dieses: Findet “der Papa mich dann intellektuell genug?”
Vergesst den Papa! Schaut selbst, wie es euch geht, macht das, was sich für euch richtig anfühlt. Und ganz ehrlich:
ICH habe in meinem ganzen Leben noch nie erlebt, dass echte Gefühle dumm machen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sollten uns trauen, Gefühle zu haben und darüber zu sprechen. Sie machen uns erst zu Menschen.
Ich danke euch und übergebe den Raum an Emile Sandé mit ihrem Lied „Read all about it“… DANKE.
Maike Plath, 16. September 2019
Infos zur Person
Maike Plath, Autorin, Theaterpädagogin und Lehrerin
Während ihrer 9-jährigen Tätigkeit als Lehrerin realisiert Plath zahlreiche biografische Theater-Eigenproduktionen und entwickelt aus der Praxis mit den Jugendlichen ein partizipatives künstlerisches Konzept, das heute in insgesamt 9 Publikationen vorliegt und über ACT e.V. bundesweit an Theaterpädagogen*innen, Lehrkräfte und Kulturschaffende weitergegeben wird. Plath arbeitet als künstlerische Leiterin des Theater-Jugendclubs am Heimathafen Neukölln und leitet gemeinsam mit zwei Kolleginnen den Verein ACT e.V. Berlin.
Rosa von Praunheim portraitierte ihre Arbeit 2017 im Kinofilm „Act! Wer bin ich?“.
Weitere Informationen: www.act-berlin.de
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