Rede von Godela Holzmann, Lehrerin am Bildungsprotest 23.9.2023 in Erlangen
Ich bin seit 28 Jahren Gymnasiallehrerin in Bayern und ich möchte mich stark machen für die Einführung einer Gemeinschaftsschule für alle mindestens bis zur 8. Klasse, gerne sogar länger, da ich der festen Überzeugung bin, dass das viergliedrige bayerische Schulsystem den Bedürfnissen von Kindern nicht gerecht wird – auch im Gymnasium!
2009 hat Deutschland die UN Resolution unterschrieben, mit der sich Deutschland verpflichtet hat, Inklusion für Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen, auch in der Bildung einzuführen.
Man kann jedoch nicht gleichzeitig SchülerInnen in vier (vermeintlich) homogene Lerngruppen aufteilen und gleichzeitig Inklusion praktizieren.
Die Lehrkräfte sind im bayerischen Schulsystem die Erfüllungsgehilfen der Selektion und Exklusion. Die Hauptaufgabe der Lehrkraft in Bayern (vor allem am Gymnasium und der Realschule) ist schon lange nicht mehr das Unterrichten sondern das Richten, also Urteilen, ob die Schülerleistung ausreicht für den Verbleib in der jeweiligen Klassenstufe oder Schule. Der Unterrichtsinhalt spielt dabei kaum mehr eine Rolle. Was die Lehrkraft den Kindern wann beibringt, wird nicht weiter kontrolliert oder beachtet. Ob die Lehrkraft die Lehrinhalte, die in den vielen Prüfungen vorkommen auch wirklich mit den SchülerInnen vorher besprochen hat, kann auch gar nicht überprüft werden. Das Perverse dabei ist, dass die Lehrkraft eigentlich die eigene Arbeit überprüft: wenn der Unterricht schlecht war, sind dementsprechend die Ergebnisse schlecht. Die Konsequenzen jedoch tragen die Kinder ganz alleine. Das geht soweit, dass manche LehrerInnen den SchülerInnen nur noch mitteilen, was sie zur nächsten Prüfung können müssen.
Dann gehen die Kinder nach Hause zum Papa/Tante/Nachhilfeinstitut etc.. und versuchen, mit externer Hilfe den „Stoff“ soweit zu lernen, dass sie bei der nächsten Leistungserhebung alles abliefern können. Die Prüfungs-, bzw. Selektionszeiten sind im bayerischen Schulsystem durchgängig, d.h. nach einer Prüfung wenden sich die Kinder sofort dem nächsten Prüfinhalt zu. Das bereits Abgelieferte wird schnellstmöglich vergessen, das nennt sich dann „bulimisches Lernen“. Üben und Wiederholen ist in dem System nicht vorgesehen, dafür ist der Stoff zu viel und es geht zu schnell voran. Dafür können wiederum die Lehrkräfte nichts. Die versuchen nach bestem Wissen und Gewissen die Vorgaben des Ministeriums zu erfüllen.
Das hohe Lerntempo, die Stofffülle und die vielen Prüfungen setzen die Kinder massiv unter Druck. Viele Familien sind über Jahre gestresst und die Doppelrolle der Lehrkraft als Unterrichter und Richter zerstört das Lehrer-/SchülerInnenverhältnis. Es entsteht ein riesiges Machtungleichgewicht, das Kind ist zum Objekt degradiert mit kaum Chancen, Lernprozesse mitzugestalten. Diese Auffassung des „Lernens“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und hat keinerlei wissenschaftliche Begründung. Humboldt würde sich im Grabe umdrehen.
Noch kurz zu dem „Stoff“, der ja durch die „Lehrpläne“ in den einzelnen Fächern vorgegeben ist: Ja, es braucht durchaus eine Einigung, welche Fächer es braucht und welche Inhalte vermittelt werden sollen. Nur: Die Stundentafel ist ebenso veraltet wie das Schulsystem und durch das Beamtentum auch gar nicht in der Lage, sich an neue Anforderungen und Entwicklungen anzupassen. Die verbeamteten LehrerInnen, die da sind, müssen auch beschäftigt werden. So müssen am Gymnasium also Migrantenkinder, (die eigentlich sowieso Deutsch als erste Fremdsprache haben), nach Englisch immer noch Französisch oder Latein wählen, aber Türkisch, Arabisch oder Ukrainisch wird kaum angeboten. Das Kind aus Togo hat Glück (da ja Französisch als Muttersprache), das Kind aus Afghanistan hat Pech (Dhari gibt es nirgends). Ich gehe nicht weiter ein auf die unsägliche Tatsache, dass wir aus all diesen Ländern auch Lehrerkräfte bei uns hätten, die aber nicht unterrichten dürfen sondern als AltenpflegerInnen oder in anderen Berufen ihr Auskommen finden, während bei uns die Kinder aus diesen Ländern geradezu kaputtgemacht werden.
Deswegen: Ich fordere eine Schule für alle, wie es viele Länder der Welt vormachen:
In allen Nordeuropäischen, Osteuropäischen, Asiatischen und Amerikanischen Ländern, auch in Neuseeland und Australien, gehen die Kinder gemeinsam in die Schule. Noten sind in den unteren Klassen in den meisten Ländern ebenso abgeschafft wie das Sitzenbleiben. Es gibt viel weniger Schulversager und die Familien sind nicht so gestresst wie die deutschen Familien und: Inklusion kann funktionieren, oh Wunder! Das tollste aber: Die Kinder gehen ohne Versagensangst zur Schule!
In einer letztens veröffentlichten Umfrage haben sich über 70% der Eltern für die Vergabe von Noten und das Beibehalten des Sitzenbleibens ausgesprochen. Dazu kann ich nur folgenden Appell an die Eltern richten: VERTRAUT EUREN KINDERN!
Kinder wollen lernen. Aber wir treiben den Kindern die Lust am Lernen geradezu aus!
Bitte gebt in den künftigen Wahlen den Parteien Eure Stimme, die für ein langes gemeinsames Lernen eintreten. Sonst befürchte ich, wird sich nichts ändern und ich möchte nicht weiterhin meinen eigenen Kindern sagen müssen: Zieht nie ein Kind in Bayern auf!!!
Godela Holzmann
Rede von Lehrerin Godela Holzmann am 23.9.2023 während der Demo zum bundesweiten „Bildungswende Jetzt“ Protest in Erlangen.
Am 23. September 2023 sind bundesweit ca. 25.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit, für zukunftsfähige und inklusive Bildung zu demonstrieren.
Weitere Informationen zur bundesweiten Initiative ‚Bildungswende Jetzt!‘ findest Du unter