Offener Brief:

    Lasst uns die Teenager nicht verlieren

    Offener Brief von Andrea Lammert 

    Sehr geehrte Bundeskanzlerin und Kultusminister,

    Ich schreibe diesen offenen Brief als Mutter, die sich Sorgen macht um ihre Kinder. Als Mutter, die für vieles Verständnis hat, vor allem dafür, dass Sie als Politiker immer Interessen abwägen müssen, denn das tue ich als Mutter auch ständig.

    Mir ist bewusst, dass die Entscheidungen und der Lockdown großen Schaden verhindern sollen. Ich habe zwei Kinder, 12 und 14 Jahre alt. Manchmal drängt sich mir der Eindruck auf, dass Sie diese Kinder schon in die Kategorie „Erwachsene“ einordnen. Das hätte fatale Folgen. Und genau deswegen schreibe ich.

    Jugendliche – keine Erwachsene

    Jugendliche ab 14 sind eben keine Erwachsene, sondern Menschen in einer sehr sensiblen Lebensphase. In der Pubertät verändern sich Gehirnstrukturen, es werden soziale Fundamente gesetzt, die möglicherweise die ethische und moralische Einstellung des ganzen Lebens prägen. Und da laufen wir Gefahr, eine ganze Generation zu verlieren.

    Während die kleinen Kinder unter der Kontaktsperre leiden, trifft es die Jugendlichen mit einer Wucht, die Sie sich vielleicht gar nicht vorstellen können, wenn Sie keine Teenager haben.

    Viel zu viel Bildschirmzeit

    Wie Sie möglicherweise nicht wissen, gibt es einen Feind, der fast allen Eltern gemein ist: Die Mediennutzung der Kinder. Es ist sowieso schon besorgniserregend, wie oft und lange die Teenager und Heranwachsenden an den Geräten sitzen. Doch bislang gab es außerhalb der Rechner immer ein Leben, das ihnen Halt geben konnte, sie aufgefangen hat. Jetzt nicht mehr. Schule findet am PC statt, ebenso die Kontakte mit Freunden – die Kinder sitzen permanent an den Geräten und entwachsen dem, was ihnen guttut. Wir Eltern arbeiten hart daran, Strukturen jenseits dieser rechnergeprägten Welt aufzubauen, aus denen die Kinder später Kraft schöpfen können, um nicht ausgebrannt zu werden. Doch uns gehen die Ideen aus. In den Harz können wir grade nicht zum Schlitten fahren, Teenager sind nur schwer für Lego zu begeistern, Gesellschaftsspiele mit Mama und Papa sind auch irgendwann öde und Netflix und Youtube schon längst leergeschaut.

    Bitte werden Sie kreativ. Wir können unsere Kinder nicht noch länger vor diesen Geräten sitzen lassen und sie quasi ihr Leben nur noch durch den Bildschirm stattfinden lassen! Bitte überlegen Sie sich dringend, wie Sie uns helfen, dass aus unseren hoffnungsfrohen Teenagern keine mediensüchtigen Erwachsenen werden.

    Lähmende Kontaktsperre

    Es ist für diese Gruppe außerordentlich wichtig, sich zu treffen, zu sehen und auszutauschen. Weil sie eben die Bindung an die Eltern in diesem Alter verlieren. Sie bauen andere Bindungen auf: Zu Gleichaltrigen, zum Lehrer, zu Freunden. Diese Kinder fallen momentan in ein Loch, denn auf der anderen Seite ist niemand außer uns Eltern – und die kommen aufgrund der Pubertät grade nicht in Frage.

    Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht gegen einen verlängerten Lockdown an den Schulen. Unter derzeitigen Bedingungen möchte ich gar nicht, dass mein Kind in die Schule geht. Dort sitzt es sieben Stunden mit durchgesabberter Maske im eiskalten Klassenzimmer direkt am ständig geöffneten Fenster. Dann lieber Unterrichtsausfall bis Ostern anstatt grippaler Infekt im Februar! Von der Pandemielage ganz zu schweigen.

    Jugendliche brauchen diese Kontakte, eben um ethisch, moralisches und soziales Verhalten zu lernen, das ist jetzt in der Entwicklung eine wichtige Aufgabe. Ein Entwicklungsschritt, der später vielleicht nie wieder nachzuholen ist, weil die Phase dann beendet ist. Es gilt nun. Emotionale Intelligenz auszubilden, sich für Schwächere einzusetzen und Egoisten zu hinterfragen. Es werden wichtige Grundlagen für eine später funktionierende Gesellschaft gesetzt. Schule, Sportvereine bieten die breite Palette des Lebens, arm, reich, dick, dünn, alle Hautfarben, alle Kulturen. Und jetzt? In dieser wichtigen Entwicklungsphase sind die Kinder eingesperrt und haben lediglich den Bildschirm als Tor in die weite Welt und sonst nichts. Kein Sport, um sich auszupowern. Kein Kichern in der Mädchengruppe, keine Chance, sich erstmals zu verlieben – alles gestrichen. Für Jugendliche sind Monate eine Ewigkeit.

    Vorgelebte Alternativlosigkeit

    Krisen sind immer auch eine Chance für Wachstum und Kreativität. Ich arbeite in einem kreativen Beruf, muss mir jeden Tag Neues einfallen lassen, schlichtweg, um zu überleben. Können wir bitte das den Kindern auch zeigen und vorleben? Können wir bitte kreativ werden, anstatt mutlos, bevormundend und Angst machend? Momentan greifen leider nur ganz altmodische Mittel, die wir als Eltern schon längst ausrangiert haben: Stubenarrest, Angst machen und Bestrafungen.

    Ich bitte Sie, vor allem die Kultusminister, dringend, sich Gedanken zu machen, wie man nicht reagiert, sondern agiert. Wie man nicht wegschließt, sondern daraus Kreatives wachsen lässt. Auch dafür bietet diese Ausnahmesituation grade jetzt eine Chance.

    Leider ist es eine Katastrophe, was grade an den Kindern ausprobiert wird. Sicher ist es schön, Distanzunterricht  per Videokonferenz zu machen, besser als nichts. Aber wissen Sie eigentlich, dass die Kinder Aufgaben gestellt bekommen, sie abarbeiten müssen und genau diese Aufgaben in ein Schwarzes Loch schicken? Möchten Sie Aufgaben erledigen, die ohne Ergebnis bleiben? Würden Sie arbeiten, ohne Rückmeldung zu bekommen? Denn diese E-Learning-Aufgaben werden in vielen Fällen und so bei uns auch – nicht korrigiert. Ich unterrichte selbst Erwachsene und weiß, dass die größten Aha-Momente immer dann kamen, wenn man seine eigenen Fehler gefunden und korrigiert hat. Das ist nicht schlimm, im Gegenteil, es hilft.

    Schlimm ist hingegen, dass die Kinder auf diese Weise lernen, dass sich nicht um sie gekümmert wird. Es setzt das Signal, dass die Lehrer nur Dienst nach Vorschrift tun. Dabei ist das gar nicht der Fall. Grade bei uns gibt es viele Lehrerinnen und Lehrer, die sich wirklich Gedanken machen und kümmern und tolle Projekte starten. Sie besuchen die Kinder zu Hause, rufen an oder machen tägliche Klassentreffen per Video. Aber bitte unterstützen Sie die Lehrkräfte mit einem großen Gesamtkonzept, damit es eben nicht mehr inselgleich auf die tollen Ideen der Lehrer gestellt bleibt. Wir brauchen Unterstützung. Jetzt!

    Firmen haben in dieser Zeit mit dem Virus Impfungen entwickelt, in einem derart hoch entwickelten Land muss es doch auch möglich sein, auch kurzfristig ein Bildungskonzept für die Schulen aufsetzen, das pädagogisch wertvoll ist und das Lehrkräfte nicht verzweifeln lässt. Wie sollen Kinder Sprachen lernen, wenn sie nicht miteinander sprechen? Wie sollen sie Handschrift verbessern, wenn sie alles am PC erledigen? Es gäbe so viele Möglichkeiten, von Lerngruppen über Korrekturhilfen untereinander – bitte bieten Sie den Lehrern Konzepte an. Und wenn Ihnen Ideen fehlen, holen Sie bitte die als Ratgeber ins Boot, die sich auskennen: Die Schülerinnen und Schüler! Es gibt sicher viele Schüler, die sich gerne und leidenschaftlich engagieren würden und nebenher lernen, was in Demokratien mit Mitbestimmung und Engagement möglich ist. Es würde Signale setzen, Zukunftskonferenzen zu installieren, anstatt ratlos auf eine „Generation Corona“ zu blicken.

    Was wird aus Praktika und Co?

    Liebe Kultusminister, liebe Bundeskanzlerin,

    Schule bedeutet heutzutage nicht mehr, nur mit Büchern zu hantieren, Matheaufgaben zu lösen und Englisch zu pauken. Es gibt aus guten Gründen auch Praktika und Girl’s/Boy’s Days. In diesem Jahr wird wohl beides wieder ins Wasser fallen. Mein Sohn hatte sich auf seinen Praktikumsplatz im letzten Jahr gefreut. Er wurde abgesagt – mit dem Versprechen: Das wird nächstes Jahr nachgeholt. Ebenso wie der Zukunftstag. Jetzt ist nächstes Jahr. Nichts kann nachgeholt werden, leere Versprechen stehen im Raum. Ich bitte Sie dringend, sich dafür einzusetzen, dass diese Kinder Praktika machen können, sobald es wieder möglich ist. Denn momentan wird den Kindern alles entzogen, was ihnen Perspektive gibt, was sie hoffen lässt. Leider entwickeln wir grade eine Generation zwischen Zukunftsangst und Null-Bock aus Resignation. Ich bitte Sie dringend, sich Möglichkeiten zu überlegen, die unseren Jugendlichen zeigen können, dass es Perspektiven gibt, dass sie sich keine Sorgen machen müssen und dass es sich lohnt zu lernen.

    Wiedereingliederung organisieren

    Ich bitte Sie zudem dringend, sich Konzepte zur Wiedereingliederung in das Lernen und das System Schule zu überlegen. Ich bitte Sie: Lassen Sie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht im Regen stehen, als wären sie Erwachsene, die reif sind und die sich selbst und der Zukunft vertrauen. Genau das tun Jugendliche nicht. Sie machen sich Sorgen. Grade Teenager.

    • Ich bitte Sie, um differenziertes Ansehen dieser Altersgruppe und vor allem bitte ich Sie, Strukturen zu erschaffen, die den Kindern mit Mut und Vertrauen nach vorn blicken lässt.
    • Ich fordere Sie auf, eine Zukunftskonferenz zu erschaffen, in der Sie dringend die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen und die durch den Lockdown entstandenen Versäumnisse und Schäden schnell wiedergutmachen können.
    • Ich bitte Sie dringend darum, den Lehrerinnen und Lehrern mit Konzepten und Technik beiseite zu stehen.
    • Ich bitte Sie dringend darum, Perspektiven zu schaffen für Zeugnisse, Schulabgänger, Praktika
    • Ich bitte Sie um ein Konzept zur Wiedereingliederung der Kinder nach diesem langen Lockdown.

    Andrea Lammert

    Andrea Lammert schreibt als Autorin über die schönen Plätze dieser Welt, vornehmlich in Deutschland. Sie wohnt in Niedersachsen zwischen Hannover und Hameln und berichtet regelmäßig auf ihrem Blog www.indigo-blau.de über Ideen für Ausflüge, Rezepte oder Basteleien. Sie mag gerne Herausforderung und Ungewöhnliches, wie etwa Winterschwimmen oder mystische Orte entdecken.

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