Nicht das Kind ist krank,
sondern die Schule, in der es steckt.
Ein Beitrag von Christoph Schmitt.
Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.
Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben – so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, zwar nicht überholt, dafür durch und durch ökonomisiert.
Jetzt hängt alle Hoffnung am Phänomen Schule. Sie erscheint als letztes Refugium für das Reproduzieren von Kultur, als letzte kulturelle Projektionsleinwand. Eine Art Rettungsboot für alle. Das verleiht ihr in den hitzigen Debatten über sie den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An ihr herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn‘s sein muss. Aber sie selbst steht nicht zur Disposition.
Schule ist vorbei
Gleichwohl spricht einiges dafür, dass diese Situation eingetreten ist; dass Schule als System zu Ende ist. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche Stabilität zu garantieren, und die sich dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt haben. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine stabilisierende Funktion verloren hat und dysfunktional geworden ist. Täglich erreichen mich durch die sozialen Medien Reflexionen, die diese Diagnose machen. Explizit oder zwischen den Zeilen. Unter anderem Andreas Schleicher – wie immer bezogen auf’s große Ganze, Bernie Bleske hinsichtlich der Beschulung Jugendlicher, Alma Pfeifer im Blick auf die ersten Jahre – und Jack Ma mit ganz viel Dramatik:
Our kids will never be able to survive because of the education we teach.
Jack Ma, Founder of Alibaba
Schule garantiert nicht mehr den gesellschaftlichen Fortbestand (was auch immer das ist), sie untergräbt ihn. Zwar gehen wir davon aus, dass all die Probleme, die Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen sind. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt braucht. Mit anderen Eltern und besseren Lehrern und mehr iPads. Doch genau das ist der fundamentale Irrtum. Warum?
Ein Beispiel: Der Einsatz heilpädagogischer Berufe nimmt stetig zu. Ebenso der von Logopädie, Psychmotorik-Therapie, integrativer Förderung, integrierter Sonderschulung, Kleinklassen, Förderlehrpersonen, Schulsozialarbeiter*innen. Die entsprechenden Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen, was sich hier und da dann auch in solchen Sätzen niederschlägt (Quelle):
Die Schule ist nicht die Reparaturwerkstatt der Gesellschaft.
Dagmar Rösler, Präsidentin Lehrerdachverband
Abgesehen davon, dass es nicht unproblematisch ist, im Zusammenhang mit Menschen von „Reparatur“ zu sprechen, geht es hier wohl vor allem um eine Illusion von „Reibungslosigkeit“ nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe. Auch Andreas Schleicher stellt im erwähnten Interview fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Dieses Mindset bringt die Problematik mitsamt den Kindern, die „Probleme machen“, also womöglich erst hervor. Das haben z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo in der Schweiz verifiziert. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug.
Wir sind an einem Punkt angekommen, wo nur noch die Kinder und Jugendlichen „unauffällig“ bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt. Alle anderen bekommen deshalb „spezielle Betreuung“.
An den Folgen operieren
Wir nehmen nicht die wirkmächtigen Zusammenhänge in den Blick. Wir operieren an den Folgen herum. Wichtig ist vor allem, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles Mögliche getan haben, was dem Steuerzahler und der Wählerschaft zuzumuten ist.
Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit. Dass es selbst der Hauptverursacher eines Problems ist, zu dessen Lösung es dann großzügig antritt, diese entscheidende und mittlerweile naheliegende, weil erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.
Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen nicht zuletzt über das sinnlose Notensystem (hier ein Statement von Remo Largo) ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen – und nicht zu vergessen:
Normierung – und nichts anderes ist ein Notensystem, in dem alle gleich bewertet werden – macht häufig Kreativität kaputt.
(Haeme Ulrich)
Dabei gerät völlig aus dem Blick, dass wir Menschen niemals „sind“. Wir „verhalten“ uns: so oder anders. Die Situation, in die wir junge Menschen stecken, damit sie lernen, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich Kinder und Jugendliche dazu verhalten.
Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit, Ritalin und Nachhilfe sind allesamt Überlebensstrategien des Schulsystems. Es geht um die Rettung unserer Vorstellung von Normalität. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an „den Kindern“ festgemacht wird, an „den Medien“ und „den Eltern“, gedeihen ja vor allem in klassischen schulischen Kontexten. Wer Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Kinder schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule, in der es passiert. Die Tatsache, dass Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht vorkommt, hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich die Schule wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.
Ganz zu schweigen davon, dass auch die Kinder und Jugendlichen, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereitet werden, was die Zukunft an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: „Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben.“ Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören, Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung.
Es ist umgekehrt: Wir brauchen komplett andere Lernumgebungen für Kinder und Jugendliche. Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die das selber in die Hand nehmen. Die das Thema Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu denken. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es nicht mehr anders geht (wie es z.B. zunehmend im Kanton Bern geschieht, weil es dort möglich ist). Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir für Kinder und Jugendliche völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen.
Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist sinnlos, solange diese weder bereit noch fähig sind, sich auf die innovativen Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Pädagogische Hochschulen zu solchen Initiativen anbieten, enden so, wie die vielen Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, „dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann“ – aus Gründen.
Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da ein wenig rumschrauben und reformieren, ein wenig digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal verwaltet? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Weil sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, weil sie pausenlos mehr Desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die einzige Lösung ist.
Das neue Lernen wächst in den Nischen
Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Gespräche und Recherchen vermute ich, dass in den nächsten Jahren vor allem jene Initiativen stark an gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für mich ein wunderbares Beispiel vor der eigenen Haustüre: Die Grundacherschule in Sarnen. Klick aufs Bild zum Video.
Der rote Faden ist das Interesse am Interesse der Kinder.
Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im deutschsprachigen Raum, wo Staaten ihre Bürger*innen mit einer rigorosen Schulplicht drangsalieren bzw. wie in der Schweiz nur die traditionellen Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Vieles hängt im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus, der jedoch weder verhindern konnte noch kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen auf Schweizer Boden, die jährlich 50 000 Franken dafür kassieren, dass sie junge Leute durch die Matura bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.
Ich meine jene Initiativen, die selber ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten, als die staatliche Schule. An dieser Stelle seien noch einmal drei von ihnen genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, die School Circles in den Niederlanden und – für mich besonders beeindruckend, weil in einem recht konservativen kulturellen Umfeld entstanden und Fuss gefasst: Learnlife in Barcelona, das mittlerweile an einem weltumspannenden Netzwerk von Learning Communities mitbaut.
Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen. Das alte Europa ist kraftlos geworden ist. Es funktioniert noch immer nach dem Schema „Zugpferde, Mitläufer, Abgehängte“. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung. „Fancy new clothes for the Emperor and his tribe“. Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen der Urschrei aller Pädagogik: „panem et circenses“ (Brot und Spiele) im neuen Gewand.
Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung dieses Systems mit „menschlichem Nachschub“. Entweder wir gehen dieses Risiko ein und erfinden Schule, Bildung und Lernen neu, oder wir gehen vor die Hunde.
Einige konkrete Vorschläge in diese Richtung habe ich bereits ausgearbeitet. Wenn Sie an diesen Gedankengängen interessiert sind, klicken Sie sich bitte rein:
-> Bildung in der digitalen Zukunft.
Christoph Schmitt steht für selbstorganisiertes und selbstbestimmtes Lernen und fürs Umdenken im Lernen.
Culture & Mindset Worker, Blogger, Ressourcenklempner, Coach, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze kleine & große Unternehmen beim „Digital Turn“ – spezialisiert auf die Themen Mindset & Kultur. Systemisch & lösungsfokussiert. Ich coache Menschen in spannenden Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen. Weitere Beiträge von Christoph Schmitt anzeigen.